Schneewittchen muss sterben
musste das Flugzeug nach London erreichen, wo man ihn in einem Fall als Gutachter erwartete. Bodenstein saß auf einem Stuhl vor dem Schreibtisch und hörte zu, während Kirchhoff notwendige Unterlagen in seinen Koffer packte und dabei über verschmolzene Basilarnähte, partiell verschmolzene Darmbeinkämme und andere Altersindikatoren dozierte.
»Wie lang hat sie in dem Tank gelegen?«, unterbrach Bodenstein ihn schließlich.
»Zehn bis maximal fünfzehn Jahre.« Der Rechtsmediziner trat an den Leuchtkasten und tippte auf eine Röntgenaufnahme. »Sie hatte sich mal den Oberarm gebrochen. Hier ist deutlich eine verheilte Fraktur zu sehen.«
Bodenstein starrte auf das Bild. Weiß leuchteten die Knochen vor dem schwarzen Hintergrund.
»Ach ja, und was noch ganz interessant ist …« Kirchhoff gehörte nicht zu der Sorte Mensch, der mit seinem Wissen herausplatzte. Selbst unter Zeitdruck vermochte er es noch spannend zu machen. Er blätterte ein paar Röntgenbilder durch, hielt sie gegen das Neonlicht des Kastens und hängte jenes, nach dem er gesucht hatte, neben die Aufnahme des Armknochens. »Man hatte ihr die ersten Prämolare im rechten und linken Oberkiefer gezogen, wahrscheinlich weil ihr Kiefer zu klein war.«
»Und was bedeutet das?«
»Dass wir Ihren Leuten Arbeit abgenommen haben.« Kirchhoff fixierte Bodenstein mit hochgezogenen Brauen. »Als wir nämlich die Daten zum Zahnschema im Computer mit der Vermisstendatei abgeglichen haben, erhielten wir einen Treffer. Das Mädchen ist seit 1997 als vermisst gemeldet. Wir verglichen also unsere Röntgenbilder mit antemortalen Röntgenbildern der Vermissten – und siehe da …«, er heftete ein weiteres Bild an den Leuchtkasten, »da haben wir den Bruch, als er noch ziemlich frisch war.«
Bodenstein übte sich in Geduld, obwohl ihm mittlerweile dämmerte, wen die Arbeiter auf dem alten Flugplatz in Eschborn da zufällig ausgegraben hatten. Ostermann hatte eine Liste von Mädchen und jungen Frauen erstellt, die in den letzten fünfzehn Jahren verschwunden und nicht wieder aufgetaucht waren. Zuoberst standen die Namen der beiden Mädchen, die Tobias Sartorius ermordet hatte.
»Da keine organischen Substanzen mehr vorhanden sind«, fuhr Kirchhoff fort, »war eine Sequenzierung nicht möglich, aber wir konnten die mitochondriale DNS extrahieren und landeten einen zweiten Treffer. Bei dem Mädchen aus dem Tank handelt es sich um …«
Er verstummte, ging um seinen Schreibtisch herum und wühlte in einem der zahlreichen Papierberge.
»Laura Wagner oder Stefanie Schneeberger«, vermutete Bodenstein. Kirchhoff blickte auf und lächelte säuerlich.
»Sie sind ein Spielverderber, Bodenstein«, sagte er. »Weil Sie mir in Ihrer Ungeduld meine Pointe vermasseln wollten, sollte ich Sie eigentlich bis zu meiner Rückkehr aus London zappeln lassen. Aber wenn Sie so freundlich sind, mich bei diesem Sauwetter zur S-Bahn zu fahren, dann verrate ich Ihnen unterwegs, welche der beiden es ist.«
Pia saß an ihrem Schreibtisch und grübelte. Sie hatte gestern bis spät in die Nacht die Akten studiert und war dabei über einige Ungereimtheiten gestolpert. Die Fakten des Falles Tobias Sartorius waren klar, die Beweise gegen ihn auf den ersten Blick eindeutig. Aber eben nur auf den ersten Blick. Schon bei der Lektüre der Vernehmungsprotokolle hatten sich Pia Fragen aufgedrängt, auf die sie im Laufe des Aktenstudiums keine Antworten fand. Tobias Sartorius war zwanzig Jahre alt gewesen, als er wegen Totschlags an der damals siebzehnjährigen Stefanie Schneeberger und wegen Mordes an der ebenfalls siebzehnjährigen Laura Wagner zur höchsten Strafe, die das Jugendstrafrecht kannte, verurteilt worden war. Ein Nachbar hatte beobachtet, wie die beiden Mädchen am späten Abend des 6. September 1997 das Haus von Familie Sartorius im Abstand von wenigen Minuten betreten hatten; schon auf der Straße hatte es eine lautstarke Auseinandersetzung zwischen Tobias und seiner Exfreundin Laura Wagner gegeben. Zuvor waren alle drei auf der Kerb gewesen und hatten dort nach Zeugenaussagen erhebliche Mengen Alkohol konsumiert. Das Gericht hatte es als erwiesen angesehen, dass Tobias seine Freundin Stefanie Schneeberger im Affekt mit einem Wagenheber erschlagen hatte, um danach seine Exfreundin Laura, die Zeugin der Tat geworden war, ebenfalls zu erschlagen. Gemessen an der Menge des Blutes von Laura, das man überall im Haus, an Tobias' Kleidung und im Kofferraum seines Autos gefunden
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