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Schneewittchen muss sterben

Schneewittchen muss sterben

Titel: Schneewittchen muss sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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Hände schlossen sich fester um das Lenkrad, er nahm den Fuß vom Gaspedal, ließ sich zurückfallen und von einem anderen Auto überholen. Sie log! Sie log immer weiter! Während sie den rechten Blinker setzte und auf die A 5 abbog, erzählte sie ihm, dass sie den ganzen Szenenplan umgeworfen habe und deshalb nicht rechtzeitig mit dem Schnitt fertig geworden war.
    »Wir hatten den Schneideraum nur bis zwölf zur Verfügung«, sagte sie. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Die Erkenntnis, dass Cosima, seine Cosima, ihn derart eiskalt und unverfroren anlog, war mehr, als Bodenstein ertragen konnte. Am liebsten hätte er sie angeschrien, hätte gerufen
Bitte, bitte, lüg doch nicht, ich fahre hinter dir her!,
aber er konnte nichts sagen, brummte nur irgendetwas und drückte dann das Gespräch weg. Wie in Trance fuhr er den Rest der Strecke zum Kommissariat. An den Garagen, in denen die Einsatzfahrzeuge standen, stellte er den Motor ab und blieb im Auto sitzen. Der Regen prasselte auf das Dach des BMW, rann über die Scheiben. Seine Welt zerfiel in Stücke. Wieso, zum Teufel, log Cosima ihn an? Die einzige Erklärung war, dass sie etwas getan hatte, von dem er nichts erfahren durfte. Was das sein könnte, wollte er überhaupt nicht wissen. So etwas passierte anderen, aber doch nicht ihm! Es dauerte eine Viertelstunde, bis er endlich in der Lage war, auszusteigen und zum Gebäude hinüberzugehen.
    Im steten Nieselregen belud Tobias den Anhänger des Traktors, um dann alles zu den Containern zu transportieren, die neben der trockengelegten Jauchegrube abgestellt worden waren. Holz, Sperr- und Restmüll. Der Typ vom Entsorgungsunternehmen hatte mehrfach darauf hingewiesen, dass es ein teurer Spaß werden würde, sollte er den Dreck nicht anständig sortieren. Wegen des Metallschrotts war gegen Mittag der Schrotthändler auf den Hof gekommen. Dem Mann hatten Dollarzeichen in den Augen gestanden, als er gesehen hatte, welche Goldgrube sich vor ihm auftat. Mit zwei Gehilfen hatte er alles aufgeladen, angefangen von den rostigen Ketten, mit denen früher die Kühe angebunden worden waren, bis hin zu den Großteilen aus Stall und Scheune. Vierhundertfünfzig Euro hatte der Schrotthändler Tobias ausgezahlt und versprochen, in der nächsten Woche wiederzukommen und den Rest zu holen. Tobias war deutlich bewusst, dass jeder seiner Handgriffe von Nachbar Paschke mit Argusaugen beobachtet wurde. Der Alte verbarg sich hinter der Gardine, aber hin und wieder linste er durch einen Spalt hinaus. Tobias beachtete ihn nicht. Als sein Vater um halb fünf von der Arbeit kam, war von den Müllbergen im unteren Hof nichts mehr zu sehen.
    »Aber die Stühle«, wandte Hartmut Sartorius verstört ein. »Die waren doch noch in Ordnung. Und die Tische. Das hätte man doch alles streichen können …«
    Tobias bugsierte seinen Vater ins Haus, dann zündete er sich eine Zigarette an und gönnte sich die erste wohlverdiente Pause seit dem Morgen. Er setzte sich auf die oberste Treppenstufe und blickte zufrieden über den aufgeräumten Hof, in dessen Mitte nur noch die alte Kastanie stand. Nadja. Das erste Mal gestattete er es seinen Gedanken, zur vorgestrigen Nacht zurückzuschweifen. Er mochte zwar dreißig Jahre alt sein, aber was Sex anbelangte, war er ein blutiger Anfänger. Im Vergleich zu dem, was Nadja und er getan hatten, erschienen ihm seine Erlebnisse von früher geradezu kindisch. Seine Phantasie hatte sie aus Mangel an Vergleichen im Laufe der Jahre zu etwas Großartigem, Einzigartigem aufgebauscht, aber nun konnte er sie in die richtige Relation rücken. Kinderkram, das verschämte Rein und Raus im muffigen Jugendbett, die Jeans samt Unterhose in den Kniekehlen, immer mit wachsam gespitzten Ohren – nicht dass unverhofft die Eltern hereinplatzten, weil doch der Schlüssel der Zimmertür fehlte.
    »Puh«, seufzte er nachdenklich. Es hörte sich schwülstig an, aber zweifellos hatte erst Nadja ihn wirklich zum Mann gemacht. Nach der ersten, hastigen Vereinigung auf dem Sofa waren sie ins Bett gegangen, und er hatte angenommen, das sei alles gewesen. Sie hatten sich in den Armen gehalten, gestreichelt, geredet, und Nadja hatte ihm gestanden, dass sie ihn schon damals geliebt habe. Es sei ihr erst bewusst geworden, als er aus ihrem Leben verschwunden sei. Und all die Jahre habe sie jeden Mann, dem sie begegnete, unbewusst an ihm gemessen. Dieses Geständnis aus dem Mund dieser wunderschönen Fremden, die er nicht mehr recht mit der

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