Schneewittchen muss sterben
Freundin aus Kindertagen in Verbindung zu bringen vermochte, hatte ihn irritiert und gleichzeitig tief beglückt. Es war ihr gelungen, ihn zu schweißtreibenden körperlichen Höchstleistungen zu motivieren, zu denen er selbst sich nie für fähig gehalten hatte. Er glaubte, sie noch immer zu riechen, zu schmecken und zu spüren. Einfach wundervoll. Großartig. Geil. Tobias war so in Gedanken versunken, dass er die leisen Schritte nicht hörte und erschrocken zusammenzuckte, als eine Gestalt unerwartet um die Hausecke bog.
»Thies?«, fragte er erstaunt. Er stand auf, machte aber keinen Versuch, auf den Sohn der Nachbarn zuzugehen oder ihn gar zu umarmen. Thies Terlinden hatte solche Vertraulichkeiten noch nie geschätzt. Er schaute ihm auch jetzt nicht in die Augen, stand nur stumm da, die Arme fest an den Körper gepresst. Seine Behinderung sah man ihm heute wie damals nicht an. So ähnlich musste also Lars heute aussehen. Lars, der um zwei Minuten jüngere Zwilling, der durch die Krankheit seines Bruders unfreiwillig zum Kronprinzen der Terlinden-Dynastie aufgestiegen war. Tobias hatte seinen besten Freund nach jenem verhängnisvollen Tag im September 1997 nie mehr wiedergesehen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er mit Nadja gar nicht über Lars gesprochen hatte, obwohl sie früher wie Geschwister gewesen waren. Kalle, Anders und Eva-Lotte, hatten sie sich genannt, die Weiße Rose – wie bei Astrid Lindgren. Plötzlich machte Thies von sich aus einen Schritt auf Tobias zu und hielt ihm zu seiner Verwunderung die Hand hin, mit der Handfläche nach oben. Erstaunt begriff Tobias, was Thies erwartete: So hatten sie sich früher begrüßt, mit einem dreimaligen Abklatschen. Zuerst war es ihr geheimes Banden-Erkennungszeichen gewesen, später ein Spaß, den sie beibehalten hatten. Ein leichtes Lächeln erschien auf Thies' hübschem Gesicht, als Tobias ihn abklatschte.
»Hallo, Tobi«, sagte er mit seiner eigentümlichen Stimme, der jede Intonation fehlte. »Schön, dass du wieder da bist.«
Amelie wischte den langen Tresen ab. Der Gastraum im Schwarzen Ross war noch leer, um halb sechs war es zu früh für die abendliche Kundschaft. Zu ihrem eigenen Erstaunen war es ihr nicht schwergefallen, heute auf ihr übliches Outfit zu verzichten. Sollte ihre Mutter wieder einmal recht behalten und war ihr Goth-Dasein nicht etwa, wie von ihr behauptet, eine Lebenseinstellung, sondern tatsächlich nur eine pubertäre Protestphase? In Berlin hatte sie sich in den weiten, schwarzen Klamotten wohl gefühlt, mit dem Schmuck, der Schminke und der aufwendigen Frisur. Ihre Freunde sahen alle so aus, und niemand drehte sich nach ihnen um, wenn sie wie ein Schwärm schwarzer Raben in der Gruppe durch die Straßen vagabundierten, mit den Springerstiefeln gegen Laternenpfähle traten und gelegentlich mit Mülleimern Fußball spielten. Was die Lehrer und andere Spießer sagten, war ihr schnuppe gewesen, sie hatte sie nicht einmal richtig wahrgenommen. Störende Objekte, die die Lippen bewegten und unsinniges Zeug redeten. Doch plötzlich war alles anders. Die anerkennenden Blicke der Männer am Sonntag, die zweifellos ihrer Figur und ihrem tiefen Ausschnitt gegolten hatten, hatten ihr gefallen. Mehr als das. Sie war wie auf Wolken gelaufen, als sie begriffen hatte, dass jeder Mann im Schwarzen Ross auf ihren Hintern starrte, Claudius Terlinden und Gregor Lauterbach inklusive. Das Hochgefühl hielt noch immer an. Jenny Jagielski kam aus der Küche gewatschelt, die Kreppsohlen ihrer Schuhe verursachten ein quatschendes Geräusch. Bei Amelies Anblick zog sie die Augenbrauen hoch.
»Von der Vogelscheuche zum Vamp«, bemerkte sie spitz. »Na, wem's gefällt.«
Dann beäugte sie kritisch das Ergebnis von Amelies Arbeit, fuhr mit dem Zeigefinger über die Platte und war zufrieden.
»Du kannst noch die Gläser spülen«, sagte sie. »Mein Bruder hat es wohl mal wieder nicht geschafft.«
Vom Mittagsgeschäft standen noch Dutzende benutzter Gläser neben dem Spülbecken. Amelie war es egal, was sie tat. Hauptsache, sie bekam jeden Abend ihre Kohle. Jenny kletterte auf einen Barhocker vor dem Tresen und zündete sich trotz Rauchverbots eine Zigarette an. Das tat sie öfter, wenn sie allein war und in friedlicher Stimmung wie heute. Amelie ergriff die günstige Gelegenheit, sie über Tobias Sartorius auszufragen.
»Natürlich kenne ich ihn von früher«, antwortete Jenny. »Der Tobi war ja ein guter Kumpel von meinem Bruder und oft bei uns zu
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