Schneewittchen muss sterben
ich auch. Aber Fakt ist, dass sie nicht mehr da sind. Letzte Woche habe ich sie noch gelesen.« Pia runzelte die Stirn. Wer konnte ein Interesse an dem alten Fall haben? Es gab keinen Grund, an und für sich unwichtige Vernehmungsprotokolle zu klauen. Das Telefon auf ihrem Schreibtisch klingelte. Sie nahm ab und hörte kurz zu. In Wallau war ein Lieferwagen von der Straße abgekommen und in Flammen aufgegangen, nachdem er sich mehrfach überschlagen hatte. Der Fahrer war schwer verletzt, aber in den Trümmern des Fahrzeugs hatte die Feuerwehr mindestens zwei bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Personen ausgemacht. Mit einem Seufzer klappte sie den Ordner zu, verstaute ihre Notizen in einer Schublade. Die Aussicht, bei dem Wetter auf einem matschigen Acker herumzukriechen, war wenig erfreulich.
Der Wind heulte um die Scheune, pfiff durch die Dachsparren und rüttelte am Tor, als ob er Einlass begehrte. Tobias Sartorius kümmerte das nicht. Er hatte am Nachmittag mit einem Immobilienmakler telefoniert und für Mittwoch nächster Woche einen Besichtigungstermin vereinbart. Bis dahin mussten Hof, Scheune und die alten Stallungen picobello sein. Mit Schwung warf er einen alten Autoreifen nach dem anderen auf die Ladefläche der Rolle. Zu Dutzenden stapelten sie sich in einer Ecke der Scheune, sein Vater hatte sie aufgehoben, um die Planen über den Heu- und Strohballen draußen im Feld zu beschweren. Jetzt gab es keine Heuballen mehr und auch kein Stroh, die Autoreifen waren nichts als Abfall.
Den ganzen Tag verfolgte ihn schon der Schatten einer flüchtigen Erinnerung, und es machte Tobias schier verrückt, dass ihm nicht einfallen wollte, was es war. Irgendeiner seiner Freunde hatte gestern Abend in der Garage etwas gesagt, das eine blitzartige Assoziation bei ihm ausgelöst hatte, aber die Erinnerung war irgendwo in der Tiefe seines Bewusstseins versunken und ließ sich nicht an die Oberfläche locken, so sehr er sich auch darum bemühte. Atemlos hielt er inne, fuhr sich mit dem Unterarm über die verschwitzte Stirn. Ein kalter Lufthauch streifte ihn, und er wandte sich um, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Erschrocken zuckte er zusammen. Drei dunkel gekleidete Gestalten mit bedrohlich vermummten Gesichtern hatten die Scheune betreten. Eine von ihnen schob von innen den schweren, eisernen Riegel vor die Tür. Stumm standen sie da und fixierten ihn durch die Sehschlitze ihrer Sturmhauben. Die Baseballschläger in ihren behandschuhten Händen verrieten ihre Absicht. Adrenalin durchflutete seinen Körper von den Zehen bis zu den Haarspitzen. Er zweifelte nicht daran, dass es sich bei zweien von ihnen um die Männer handelte, die Amelie niedergeschlagen hatten. Sie waren wiedergekommen, um ihr eigentliches Ziel zu erwischen, nämlich ihn. Er wich zurück und überlegte fieberhaft, wie er den drei Männern entkommen könnte. In der Scheune gab es keine Fenster, keine Hintertür. Aber eine Leiter, die hoch auf den leeren Heuboden führte! Sie war seine einzige Chance. Er zwang sich, nicht zu ihr hinüberzusehen, um den drei Männern sein Vorhaben nicht zu verraten. Trotz der aufsteigenden Panik in seinem Inneren gelang es ihm, ruhig zu bleiben. Er musste die Leiter erreichen, bevor sie bei ihm waren. Sie waren noch knapp fünf Meter von ihm entfernt, als er losrannte. In Sekunden war er an der Leiter, kletterte, so schnell er konnte. Der Schlag eines Baseballschlägers traf mit voller Wucht seinen Unterschenkel. Er spürte keinen Schmerz, aber sein linkes Bein war sofort taub. Mit zusammengebissenen Zähnen kletterte er weiter, doch einer der Verfolger war nicht viel langsamer als er, packte seinen Fuß und zerrte daran. Tobias klammerte sich an den Sprossen der Leiter fest, trat mit dem anderen Fuß nach dem Mann. Er hörte einen unterdrückten Schmerzensschrei und spürte, wie sich der Griff an seinem Knöchel lockerte. Die Leiter schwankte, plötzlich griff er ins Leere und verlor beinahe den Halt. Drei Sprossen fehlten! Er warf einen Blick nach unten, fühlte sich wie eine Katze an einem nackten Baumstamm, der drei blutrünstige Rottweiler auf den Fersen waren. Irgendwie erreichte er die nächste Sprosse, zog sich mit aller Kraft nach oben, das taube Bein kribbelte und war ihm kaum eine Hilfe. Endlich hatte er den Heuboden erreicht. Zwei der Kerle kletterten ihm nach, der dritte war verschwunden. Tobias blickte sich hektisch im Halbdunkel des Bodens um. Die Leiter war an die Holzbohlen geschraubt,
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