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Schneewittchen muss sterben

Schneewittchen muss sterben

Titel: Schneewittchen muss sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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sie rochen auch nicht so intensiv nach Farbe wie frisch gemalte Bilder. Vorsichtig öffnete sie die zahlreichen Knoten des Bandes, mit dem Thies die Rolle umwickelt hatte. Es waren acht Bilder in einem relativ kleinen Format. Und sie waren völlig anders, gar nicht Thies' üblicher Malstil, sondern sehr gegenständlich und detailgetreu mit Menschen, die … Amelie erstarrte und betrachtete das erste Bild genauer. Sie spürte ein Kribbeln im Genick, ihr Herzschlag beschleunigte sich. Vor einer großen Scheune mit weit geöffnetem Tor beugten sich zwei Jungen über ein am Boden liegendes blondes Mädchen, dessen Kopf in einer Blutlache lag. Ein weiterer Junge mit dunklen Locken stand daneben, ein vierter rannte mit panischem Gesichtsausdruck direkt auf den Betrachter zu. Und dieser vierte war – Thies! Fieberhaft blätterte sie die anderen Bilder durch.
    »O Gott«, flüsterte sie. Die Scheune mit dem offenen Tor, daneben ein etwas flacheres Stallgebäude, dieselben Personen. Thies saß neben der Scheune, der Junge mit den dunklen Locken stand an der offenen Tür des Stalles und beobachtete die Vorgänge im Innern des Stalls. Einer der Jungen vergewaltigte das blonde Mädchen, der andere Junge hielt es fest. Amelie schluckte und blätterte weiter. Wieder die Scheune, ein anderes Mädchen mit langen, schwarzen Haaren und einem knappen hellblauen Kleid, das sich mit einem Mann küsste. Er hatte eine Hand auf ihrer Brust und sie ein Bein um seinen Oberschenkel geschlungen. Die Situation wirkte unglaublich lebensecht. Im Hintergrund der dunklen Scheune war der lockige Junge von den anderen Bildern zu erkennen. Die Bilder ähnelten Fotografien; Thies hatte jedes Detail eingefangen, die Farben der Kleider, die Halskette des Mädchens, eine Schrift auf einem T-Shirt. Unglaublich! Die Bilder zeigten unzweifelhaft den Hof der Familie Sartorius. Und sie stellten die Ereignisse vom September 1997 dar. Amelie glättete mit beiden Händen das letzte Bild und erstarrte. Im Haus war es so still, dass sie ihren Puls in den Ohren pochen hörte. Das Bild zeigte den Mann, der sich mit dem schwarzhaarigen Mädchen geküsst hatte, von vorne. Sie kannte ihn. Sie kannte ihn gut.

Freitag, 14. November 2008
    »Guten Morgen.« Gregor Lauterbach nickte seiner Büroleiterin Ines Schürmann-Liedtke zu und betrat sein großes Büro im hessischen Kultusministerium am Luisenplatz in Wiesbaden. Er hatte heute einen knallvollen Terminkalender. Für acht Uhr war eine Besprechung mit seinem Staatssekretär angesetzt, um zehn stand die Rede im Plenum an, in der er den Haushaltsentwurf für das kommende Jahr vorstellen würde. Mittags war eine Stunde für ein kurzes gemeinsames Mittagessen mit Vertretern der Lehrerdelegation aus Wisconsin, dem amerikanischen Partnerstaat Hessens, reserviert. Auf seinem Schreibtisch lag schon die Post, ordentlich nach Wichtigkeit geordnet in verschiedenfarbigen Wiedervorlagemappen. Zuoberst die Mappe mit der Korrespondenz, die er unterschreiben musste. Lauterbach knöpfte sein Jackett auf und setzte sich an den Schreibtisch, um schnell das Wichtigste zu erledigen. Zwanzig vor acht. Der Staatssekretär würde pünktlich sein, das war er immer.
    »Ihr Kaffee, Herr Kultusminister.« Ines Schürmann-Liedtke kam herein und stellte ihm eine Tasse mit dampfendem Kaffee hin.
    »Danke«, er lächelte. Die Frau war nicht nur eine intelligente und hocheffiziente Büroleiterin, sondern darüber hinaus eine echte Augenweide: drall, dunkelhaarig, mit großen, dunklen Augen und einer Haut wie Milch und Honig. Sie erinnerte ihn ein bisschen an Daniela, seine Frau. Manchmal gestattete er sich lüsterne Tagträume, in denen sie eine Hauptrolle spielte, aber in der Realität war sein Verhalten ihr gegenüber stets untadelig. Zwar hätte er das Recht gehabt, bei seinem Amtsantritt vor zwei Jahren die Stellen in seinem Büro mit neuem Personal zu besetzen, aber Ines hatte ihm auf Anhieb gefallen, und sie dankte ihm den Erhalt ihres Arbeitsplatzes mit absoluter Loyalität und unglaublichem Fleiß.
    »Sie sehen heute wieder großartig aus, Ines«, sagte er und nippte an seinem Kaffee. »Das Grün steht Ihnen wunderbar.«
    »Vielen Dank.« Sie lächelte geschmeichelt, wurde aber sofort wieder professionell und las ihm rasch die Liste der Anrufer vor, die um Rückruf gebeten hatten. Lauterbach hörte mit einem Ohr zu, während er seine Unterschrift unter die Briefe setzte, die Ines geschrieben hatte, nickte oder schüttelte mit dem Kopf. Als sie

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