Schneewittchen muss sterben
fertig war, reichte er ihr die Korrespondenz. Sie verließ sein Büro, und er widmete sich der Post, die Ines Schürmann-Liedtke bereits vorsortiert hatte. Vier Briefe waren dabei, die ausdrücklich »persönlich« an ihn gerichtet waren, und die hatte sie auch noch nicht geöffnet. Er schlitzte alle vier mit dem Brieföffner auf, überflog die ersten beiden rasch und legte sie beiseite. Als er den dritten Brief öffnete, stockte ihm der Atem:
Wenn du weiter die Klappe hältst, wird nichts passieren. Wenn nicht, dann erfährt die Polizei, was du damals in der Scheune verloren hast, als du deine minderjährige Schülerin gevögelt hast. Liebe Grüße von Schneewittchen.
Sein Mund war plötzlich staubtrocken. Er betrachtete das zweite Blatt, das ein Foto von einem Schlüsselbund zeigte.
Kalte Angst kroch durch seine Adern, gleichzeitig brach ihm der Schweiß aus. Das hier war kein Scherz, sondern bitterer Ernst. Seine Gedanken rasten. Wer hatte das geschrieben? Wer konnte von ihm und seinem Ausrutscher mit dem Mädchen wissen? Und warum, zum Teufel, kam dieser Brief ausgerechnet jetzt? Gregor Lauterbach hatte das Gefühl, ihm müsse das Herz aus der Brust springen. Elf Jahre lang hatte er die Geschehnisse von damals erfolgreich verdrängen können. Aber jetzt war alles wieder da, so lebendig, als sei es erst gestern passiert. Er stand auf und trat ans Fenster, starrte hinaus auf den leeren Luisenplatz, der im allmählich heller werdenden Licht des trüben Novembermorgens dalag. Er atmete langsam ein und aus. Nur jetzt nicht die Nerven verlieren! In einer Schreibtischschublade fand er das abgegriffene Notizbuch, in dem er sich seit Jahren Telefonnummern notierte. Als er zum Telefonhörer griff, bemerkte er verärgert, dass seine Hand zitterte.
Die knorrige alte Eiche stand im vorderen Teil des großen Parks, keine fünf Meter von der Mauer entfernt, die das ganze Grundstück umgab. Das Baumhaus war ihr noch nie aufgefallen, vielleicht weil es im Sommer vom dichten Blätterkleid des Baumes verdeckt wurde. Es war nicht ganz einfach, im Minirock und mit Strumpfhose die wenig vertrauenerweckend aussehenden Stufen der morschen Leiter hinaufzuklettern, die vom Regen der letzten Tage glitschig geworden waren. Hoffentlich kam Thies nicht ausgerechnet jetzt auf die Idee, sein Atelier zu verlassen. Er würde sofort wissen, was sie hier tat. Endlich hatte sie das Baumhaus erreicht und kroch auf allen vieren hinein. Es war ein stabiler Kasten aus Holz, so ähnlich wie die Hochsitze im Wald.
Amelie richtete sich vorsichtig auf und blickte sich um, dann setzte sie sich auf die Bank und blickte durch das vordere Fenster nach unten. Volltreffer! Sie kramte ihren iPod aus der Jackentasche und rief die Bilder auf, die sie gestern Nacht noch fotografiert hatte. Die Perspektive stimmte zu hundert Prozent. Von hier bot sich ihr ein grandioser Ausblick über das halbe Dorf, der obere Teil des Sartorius-Hofes mit Scheune und Kuhstall lag ihr direkt zu Füßen. Selbst mit bloßem Auge war jedes Detail genau zu sehen. Wenn sie davon ausging, dass der Kirschlorbeer vor elf Jahren noch ein kleiner Busch gewesen war, dann musste der Schöpfer der Bilder von genau dieser Stelle aus die Ereignisse beobachtet haben. Amelie zündete sich eine Zigarette an und stemmte die Füße gegen die Holzwand. Wer hatte hier gesessen? Thies konnte es nicht gewesen sein, denn er war auf dreien der Bilder zu sehen. Hatte jemand von hier aus Fotos gemacht, die Thies gefunden und abgemalt hatte? Noch viel interessanter war die Frage, wer die anderen Leute auf den Bildern waren. Laura Wagner und Stefanie »Schneewittchen« Schneeberger, das war klar. Und den Mann, der es mit Schneewittchen in der Scheune getrieben hatte, kannte sie auch. Aber wer waren die drei Jungs? Nachdenklich zog Amelie an ihrer Zigarette und überlegte, was sie mit ihrem Wissen anfangen sollte. Die Polizei schied aus. Sie hatte in der Vergangenheit nur schlechte Erfahrungen mit den Bullen gemacht; nicht zuletzt deshalb war sie in dieses Kaff zu ihrem Erzeuger abgeschoben worden, von dem sie in den zwölf Jahren zuvor außer an ihren Geburtstagen und Weihnachten so gut wie nichts gehört hatte. Alternative zwei, ihre Eltern, würde auch auf die Bullen hinauslaufen, ergab deshalb keinen Sinn. Eine Bewegung im Hof der Sartorius erregte ihre Aufmerksamkeit. Tobias betrat die Scheune, wenig später knatterte der Motor des alten roten Traktors. Wahrscheinlich nutzte er den halbwegs trockenen Tag
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