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Schneewittchen muss sterben

Schneewittchen muss sterben

Titel: Schneewittchen muss sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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unmöglich, sie umzukippen! Er humpelte, so schnell er konnte, zu der niedrigsten Stelle des Daches, drückte mit der Hand von unten gegen die Dachziegel. Eine löste sich, dann eine zweite. Immer wieder schaute er über die Schulter. Der Kopf des ersten Verfolgers erschien über dem Rand des Heubodens. Verdammt! Das Loch war noch viel zu klein, um sich hindurchzwängen zu können. Als er die Sinnlosigkeit seines Unterfangens einsehen musste, lief er zu der Luke, unter der einige Meter tiefer die Rolle mit den Autoreifen stand. Mit dem Mut der Verzweiflung wagte er den Sprung. Einer der Verfolger kehrte auf der Leiter um und kletterte wie eine große schwarze Spinne eilig wieder nach unten. Tobias ließ sich zu Boden gleiten, duckte sich in den schwarzen Schatten unter den Anhänger. Er tastete suchend den Boden ab und verfluchte seinen Aufräumwahn. Nichts lag mehr herum, was er als Verteidigungswaffe hätte benutzen können! Das Herz hämmerte gegen seinen Brustkorb, er verharrte noch kurz, dann setzte er alles auf eine Karte und rannte los.
    Sie erreichten ihn in dem Augenblick, als er den Riegel schon in der Hand hatte. Die Schläge trafen ihn an den Schultern und Armen, im Kreuz. Seine Knie gaben nach, er rollte sich zusammen, schlang schützend die Arme um seinen Kopf. Sie prügelten und traten auf ihn ein, ohne einen Ton von sich zu geben. Schließlich packten sie seine Arme, bogen sie mit roher Gewalt auseinander und zerrten ihm Pullover und T-Shirt über den Kopf. Tobias biss die Zähne zusammen, um nicht zu jammern oder um sein Leben zu betteln. Er sah, wie einer der Männer eine Wäscheleine zu einer Schlinge knotete. Sosehr er sich auch wehrte, sie waren in der Übermacht, fesselten seine Hand- und Fußgelenke hinter seinem Körper zusammen und legten ihm die Schlinge um den Hals. Hilflos wie ein Paket verschnürt, musste er es erdulden, dass sie ihn mit nacktem Oberkörper unsanft über den rauen, eisigen Boden zur rückwärtigen Wand schleiften, ihm einen stinkigen Lappen als Knebel in den Mund steckten und ihm die Augen verbanden. Keuchend lag er auf dem Boden, sein Herz raste. Die Wäscheleine schnürte ihm die Luft ab, sobald er sich auch nur einen Millimeter bewegte. Tobias lauschte auf Geräusche, hörte aber nur den Sturm, der unvermindert heftig um die Scheune toste. Sollten die drei sich damit zufriedengeben? Hatten sie gar nicht vor, ihn umzubringen? Waren sie weg? Die Spannung ließ ein winziges bisschen nach, seine Muskeln entkrampften sich. Aber seine Erleichterung war verfrüht. Er hörte ein Zischen, roch den Geruch von Lack. Im selben Moment traf ihn ein Schlag mitten ins Gesicht, sein Nasenbein brach mit einem Knacken, das durch seinen Kopf hallte wie ein Schuss. Tränen schossen ihm in die Augen, Blut verstopfte seine Nase. Durch den Knebel in seinem Mund bekam er kaum noch Luft. Die Panik war wieder da, hundertmal heftiger als zuvor, denn nun konnte er seine Angreifer nicht mehr sehen. Tritte und Schläge prasselten auf ihn ein, und in diesen Sekunden, die zu Stunden, Tagen und Wochen wurden, wuchs in ihm die Gewissheit, dass sie ihn töten wollten.
    Es war nicht viel los im Schwarzen Ross. Die übliche Skatrunde am Stammtisch war nicht vollzählig, auch Jörg Richter fehlte, was die Laune seiner Schwester auf ein vorläufiges Jahrestief hatte sinken lassen. Eigentlich hätte Jenny Jagielski an diesem Abend zum Elternabend im Kindergarten gehen müssen, aber in Abwesenheit ihres Bruders brachte sie es nicht über sich, das Schwarze Ross ihren Angestellten zu überlassen, zumal Roswitha sich krankgemeldet hatte und Jenny mit Amelie allein im Service war. Es war halb zehn, als Jörg Richter und sein Kumpel Felix Pietsch auftauchten. Sie zogen die nassen Jacken aus und setzten sich an einen der Tische; kurz darauf kamen noch zwei andere Männer, die Amelie schon des Öfteren zusammen mit dem Bruder ihrer Chefin gesehen hatte. Jenny stapfte wie ein Racheengel zu ihrem Bruder, aber der fertigte sie mit knappen Worten ab. Sie kehrte mit zusammengekniffenen Lippen zurück hinter den Tresen, die roten Wutflecke leuchteten an ihrem Hals.
    »Bring uns mal vier Bier und vier Willis!«, rief Jörg Richter Amelie zu.
    »Nix gibt's«, knirschte Jenny Jagielski zornig. »Dieser Drecksack!«
    »Aber die anderen sind doch Gäste«, bemerkte Amelie arglos.
    »Haben die bei dir schon mal bezahlt?«, schnappte Jenny, und als Amelie daraufhin den Kopf schüttelte, sagte sie: »Von wegen Gäste. Schmarotzer

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