Schneewittchen muss sterben
präsentieren zu können. Hartmut Sartorius hatte jedem Vorschlag von Tobias zugestimmt, aber er wusste, dass er unbedingt mit Claudius sprechen musste, was den Makler anbetraf. Immerhin war Claudius Terlinden der alleinige Eigentümer des ganzen Anwesens, auch wenn das Tobias nicht passte. Hartmut Sartorius ging pinkeln, dann rauchte er am Küchentisch eine Zigarette. Mittlerweile war es zwanzig vor eins. Mit einem Seufzer kam er auf die Beine und ging in die Diele. Er zog seine alte Strickjacke über, bevor er die Haustür öffnete und in die stürmische, kalte Regennacht hinausging. Zu seiner Verwunderung blieb der Scheinwerfer an der Hausecke dunkel, obwohl Tobias erst vor drei Tagen einen Bewegungsmelder montiert hatte. Er ging über den Hof und sah, dass es auch im Stall und in der Scheune dunkel war. Das Auto und der Traktor standen aber da. War Tobias bei seinen Freunden? Ein seltsames Gefühl beschlich ihn, als er den Lichtschalter an der Tür des Kuhstalles betätigte. Es klackte, aber das Licht ging nicht an. Hoffentlich war Tobias nicht irgendetwas passiert, während er behaglich im Haus vor dem Fernseher geschlafen hatte! Hartmut Sartorius ging in die Milchküche. Hier hing der Sicherungskasten, und hier funktionierte auch das Licht, denn dieser Raum war an den Sicherungskreis des Hauses angeschlossen. Drei Sicherungen waren herausgesprungen. Er drückte sie hinein, und sofort flammten grell die Scheinwerfer über der Stalltür und dem Scheunentor auf. Hartmut Sartorius überquerte den Hof und stieß einen unterdrückten Fluch aus, als er mit den Filzschlappen in eine Pfütze trat.
»Tobias?« Er blieb stehen, lauschte. Nichts. Der Stall war leer, keine Spur von seinem Sohn weit und breit. Er ging weiter. Der Wind zerrte an seinen Haaren, fuhr durch die Maschen der Strickjacke. Er fror. Der Sturm hatte die dichte Wolkendecke aufgerissen, Wolkenfetzen segelten schnell am halbvollen Mond vorbei. In dessen bleichem Licht wirkten die drei großen Container, die nebeneinander weiter oben im Hof standen, wie feindliche Panzer. Das Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung war, wurde stärker, als er sah, dass ein Flügel des Scheunentores knarrend im Wind hin und her schwang. Er versuchte, das Tor zu fassen, aber es riss sich unter einer neuerlichen Böe beinahe los, als hätte es ein Eigenleben. Mit aller Kraft zog Hartmut Sartorius es hinter sich zu. Der Scheinwerfer verlosch nur Sekunden später, aber er kannte sich auf seinem Hof auch im Dunkeln aus und fand sofort den Lichtschalter. »Tobias!«
Die Neonröhren brummten und flackerten auf, und im selben Moment sah er die roten Buchstaben an der Wand. WER NICHT HÖREN WILL, MUSS FÜLEN! Ihm fiel der Rechtschreibfehler auf, erst dann erblickte er die zusammengekrümmte Gestalt auf dem Boden. Der Schreck fuhr ihm so heftig in die Glieder, dass er zu zittern begann. Er stolperte quer durch die Scheune, sank in die Knie und sah voller Entsetzen, was geschehen war. Die Tränen schossen ihm in die Augen. Man hatte Tobias an Händen und Füßen gefesselt, eine Schnur lag so straff um seinen Hals, dass sie tief ins Fleisch geschnitten hatte. Tobias' Augen waren verbunden, sein Gesicht und sein nackter Oberkörper zeigten deutliche Spuren grausamer Misshandlungen. Das musste Stunden her sein, denn das Blut war bereits geronnen.
»O Gott, o Gott, Tobi!« Mit bebenden Fingern machte sich Hartmut Sartorius daran, die Fesseln zu öffnen. Mit roter Sprühfarbe hatten sie ein Wort auf seinen nackten Rücken gesprüht: MÖRDER! Er berührte die Schulter seines Sohnes und erschrak. Tobias' Haut war eiskalt.
Samstag, 15. November 2008
Gregor Lauterbach ging ruhelos im Wohnzimmer auf und ab. Er hatte schon drei Gläser Whisky getrunken, aber die beruhigende Wirkung des Alkohols blieb diesmal aus. Den ganzen Tag über hatte er den bedrohlichen Inhalt des anonymen Briefes verdrängen können, doch kaum hatte er sein Haus betreten, war die Angst über ihn hergefallen. Daniela hatte schon im Bett gelegen, er hatte sie nicht stören wollen. Einen Moment hatte er daran gedacht, seine Geliebte anzurufen und sich mit ihr in seiner Wohnung zu treffen, einfach um sich abzulenken, aber den Gedanken hatte er wieder verworfen. Diesmal musste er alleine damit fertig werden. Er hatte also eine Schlaftablette genommen und sich ins Bett gelegt. Aber das Klingeln des Telefons hatte ihn um ein Uhr morgens aus dem Schlaf gerissen. Anrufe um diese Uhrzeit verhießen nie etwas Gutes. Zitternd
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