Schneewittchen muss sterben
sind das!«
Es dauerte keine zwei Minuten, bis Jörg Richter selbst hinter den Tresen marschierte und vier Bier zapfte. Er war nicht weniger übelgelaunt als seine Schwester, es kam zu einem heftigen, im Flüsterton geführten Wortwechsel. Amelie fragte sich, was passiert war. Eine unterschwellige Aggressivität lag wie Elektrizität in der Luft. Der dicke Felix Pietsch war puterrot im Gesicht, auch die beiden anderen zogen finstere Mienen. Amelie wurde von ihren Überlegungen abgelenkt, als die drei fehlenden Skatbrüder hereinpolterten und noch auf dem Weg zum runden Tisch Schnitzel mit Bratkartoffeln, Rumpsteak und Weizenbier bei ihr orderten. Sie entledigten sich ihrer nassen Jacken und Mäntel und setzten sich; einer von ihnen, Lutz Richter, begann sofort, etwas zu erzählen. Die Männer steckten die Köpfe zusammen und lauschten aufmerksam. Richter verstummte, als Amelie mit den Getränken am Tisch erschien, und wartete, bis sie wieder außer Hörweite war. Amelie maß dem eigenartigen Verhalten der Männer keine Bedeutung bei, in Gedanken war sie schon wieder bei Thies' Bildern. Vielleicht war es doch das Beste, vorerst das zu tun, worum Thies sie gebeten hatte, und Stillschweigen zu bewahren.
Er kam zur Haustür herein und zog die durchnässte Jacke und die schmutzigen Schuhe im Windfang aus. Im Spiegel neben der Garderobe begegnete er seinem Blick und senkte unwillkürlich den Kopf. Es war nicht richtig, was sie getan hatten. Absolut nicht richtig. Wenn Terlinden davon erfuhr, dann war er reif – und die anderen beiden auch. Er ging in die Küche, fand noch eine Flasche Bier im Seitenfach des Kühlschranks. Seine Muskeln schmerzten, und morgen würde er sicher einige blaue Flecke an Armen und Beinen haben, so hatte der Kerl sich gewehrt. Aber vergeblich. Zu dritt waren sie stärker gewesen. Schritte näherten sich.
»Und?«, ertönte hinter ihm die neugierige Stimme seiner Frau. »Wie ist es gelaufen?«
»Wie geplant.« Er drehte sich nicht zu ihr um, nahm einen Flaschenöffner aus der Schublade und setzte ihn an. Mit einem Zischen und einem leisen »Plopp« sprang der Kronkorken von der Flasche. Er schauderte. So hatte es geklungen, als das Nasenbein von Tobias Sartorius unter seiner Faust gebrochen war.
»Ist er …?« Sie ließ den Satz unvollendet. Da drehte er sich um und musterte sie.
»Wahrscheinlich«, erwiderte er. Der klapprige Küchenstuhl ächzte unter seinem Gewicht, als er sich hinsetzte. Er trank einen Schluck Bier. Es schmeckte schal. Die anderen hätten den Kerl ersticken lassen, aber er hatte noch rasch den Knebel aus dem Mund des Bewusstlosen entfernt, ohne dass sie es bemerkt hatten. »Wir haben ihm auf jeden Fall einen ordentlichen Denkzettel verpasst.«
Seine Frau hob die Augenbrauen, und er wandte den Blick ab.
»Einen Denkzettel. Na toll«, sagte sie verächtlich.
Er dachte daran, wie Tobias sie angesehen hatte, die nackte Todesangst im Gesicht. Erst als sie ihm die Augen verbunden hatten, war er in der Lage gewesen, ebenfalls zuzuschlagen und zu treten. Aus Ärger über seine Schwäche hatte er dann alle Kraft in seine Schläge und Tritte gelegt. Jetzt schämte er sich dafür. Nein, es war ganz und gar nicht richtig gewesen!
»Weichlinge«, schob seine Frau in diesem Moment nach. Mit Mühe unterdrückte er den aufsteigenden Zorn. Was erwartete sie denn von ihm? Dass er einen Mann umbrachte? Einen Nachbarn? Das Letzte, was sie jetzt brauchen konnten, waren Bullen, die überall im Dorf herumschnüffelten und blöde Fragen stellten! Es gab zu viele Geheimnisse, die auch besser welche blieben.
Es war kurz nach Mitternacht, als Hartmut Sartorius aufwachte. Der Fernseher lief noch immer – irgendein brutaler Horrorschocker, in dem kreischende Teenager mit angstvoll aufgerissenen Augen vor einem maskierten Psychopathen flohen, der sie nacheinander mit einer Axt und einer Kettensäge abschlachtete. Benommen tastete Hartmut Sartorius nach der Fernbedienung und schaltete das Gerät ab. Seine Knie schmerzten, als er aufstand. In der Küche brannte Licht, die abgedeckte Pfanne mit dem Schnitzel und den Bratkartoffeln stand unangetastet auf dem Herd. Ein Blick auf die Küchenuhr zeigte ihm, wie spät es war. Tobias' Jacke hing nicht in der Garderobe, aber der Autoschlüssel lag auf der Ablage unter dem Spiegel, also war er nicht weggefahren. Der Junge übertrieb es wirklich mit seiner Aufräumerei. Er hatte den Ehrgeiz, den Hof in der nächsten Woche dem Makler völlig picobello
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