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Schneewittchen muss sterben

Schneewittchen muss sterben

Titel: Schneewittchen muss sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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Mal mehr zu einem Ausbruch. Thies öffnete sich sogar ein wenig. Er half dem Gärtner, er begann zu malen. Freilich aß er am Tisch noch immer mit seinem Kinderbesteck von seinem Teddybärteller, aber er aß, er trank, er benahm sich weitgehend normal. Die Ärzte zeigten sich hochzufrieden mit dieser Entwicklung und rieten den Eltern, den Jungen nach Hause zu holen. Seitdem, seit nunmehr fünfzehn Jahren, hatte es keinen einzigen Zwischenfall mehr gegeben. Thies bewegte sich frei im Dorf, die meiste Zeit verbrachte er im Garten, den er ohne jede Hilfe zu einem symmetrisch angelegten Park mit Buchsbaumhecken, Blumenbeeten und jeder Menge mediterraner Pflanzen verwandelt hatte. Und er malte, oft bis zur völligen Erschöpfung. Die großformatigen Bilder waren eindrucksvolle Werke: eigenwillig, verstörend düster, beklemmende Botschaften aus den verborgenen Tiefen seines autistischen Innenlebens. Gegen Ausstellungen seiner Bilder hatte Thies nichts einzuwenden, zweimal hatte er seine Eltern sogar zu Vernissagen begleitet, auch störte es ihn nicht, wenn er sich von den Bildern trennen musste, wie Claudius Terlinden anfangs befürchtet hatte. Thies malte also, hielt den Garten in Ordnung, und alles war gut, selbst Kontakte mit der Öffentlichkeit meisterte Thies, ohne auszurasten. Hin und wieder sprach er sogar ein paar Worte. Er schien auf dem besten Weg, die Tür zu seinem Innersten einen winzigen Spalt zu öffnen. Und nun das. Was für ein Rückschlag! Stumm und tief beunruhigt betrachtete Claudius Terlinden seinen Sohn. Der Anblick tat ihm in der Seele weh.
    »Thies!«, sagte er mit sanfter Stimme, dann etwas strenger: »Thies!«
    »Er hat seine Medikamente nicht mehr genommen«, flüsterte Christine Terlinden hinter ihm. »Imelda hat sie in der Toilette gefunden.«
    Claudius Terlinden ging in das Zimmer, kniete sich außerhalb des Kreises hin. »Thies«, sagte er leise. »Was hast du denn?«
    »Washastdudenn«, repetierte Thies tonlos und schlug sich mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks ins Gesicht. »Washastdudenn … washastdudenn … washastdudenn …«
    Terlinden sah, dass er etwas in der Faust hielt. Als er den Arm seines Sohnes ergreifen wollte, sprang Thies unvermittelt auf und stürzte sich auf seinen Vater, schlug mit den Fäusten auf ihn ein und trat nach ihm. Claudius Terlinden war von dem Angriff überrascht, intuitiv wehrte er sich, aber Thies war kein kleiner Junge mehr, sondern ein erwachsener Mann mit von der Gartenarbeit gestählten Muskeln. Sein Blick war wild, Speichel und Blut tropften von seinem Kinn. Keuchend erwehrte Claudius Terlinden sich seines Sohnes, wie durch einen Nebel hörte er seine Frau hysterisch schreien. Endlich gelang es ihm, Thies gewaltsam die Faust zu öffnen und ihm deren Inhalt zu entwenden. Auf allen vieren kroch er zur Tür. Thies folgte ihm nicht, sondern stieß ein schauerliches Geheul aus und blieb zusammengekrümmt auf dem Boden liegen.
    »Amelie«, brabbelte er. »Amelie Amelie Amelie Amelie. Washastdudenn … Washastdudenn … Washastdudenn … Papa … Papa …Papa …«
    Schwer atmend kam Claudius Terlinden auf die Beine. Er zitterte am ganzen Körper. Seine Frau starrte ihn an, die Hände vor den Mund geschlagen, die Augen voller Tränen.
    Terlinden faltete das Papier auseinander, und ihn traf beinahe der Schlag. Von dem zerknitterten Foto lachte ihm Stefanie Schneeberger entgegen.
    Arne und Barbara Fröhlich waren am Samstagvormittag mit ihren beiden jüngeren Kindern zu Freunden in den Rheingau gefahren und erst spätabends nach Hause gekommen. Amelie hatte am Abend im Schwarzen Ross gearbeitet; als sie um Mitternacht nicht zurück war, hatte ihr Vater in der Gaststätte angerufen und von der aufgebrachten Chefin erfahren, dass Amelie um kurz nach zehn gegangen war, obwohl sie vor Arbeit nicht mehr ein noch aus gewusst hatten. Die Fröhlichs hatten danach sämtliche Klassenkameraden und Bekannte ihrer Tochter, deren Telefonnummern sie finden konnten, abtelefoniert. Vergebens. Niemand hatte Amelie gesehen oder mit ihr gesprochen.
    Bodenstein und Pia befragten Jenny Jagielski, die Wirtin vom Schwarzen Ross, die ihnen bestätigte, was Arne Fröhlich zuvor gesagt hatte. Amelie habe sich den ganzen Abend seltsam abwesend verhalten und in der Küche ständig versucht zu telefonieren. Um zehn Uhr habe sie dann einen Anruf erhalten und sei einfach weggelaufen. Und am Sonntag sei sie nicht wie üblich zum Frühschoppen aufgetaucht. Nein, sie hatte nicht

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