Schneewittchens Tod
kraulte. Er war nur einmal kurz ins viel zu kalte Wasser eingetaucht. Kinder spielten Frisbee, ein Hund pinkelte an einen Baumstamm, der beim letzten Sturm umgeknickt war. Die Untersuchung hatte nichts Auffälliges ergeben. Die Kleine schien bei guter Gesundheit gewesen zu sein. Gaelle wollte weitere, speziellere Analysen an der Uni durchführen, aber . Chib schwankte ständig zwischen der Mord- und der Unfallthese. Ohne die Möglichkeit zu vergessen, dass die Kleine sexuelle Beziehungen mit jemandem gehabt haben und zusätzlich die Treppe hinuntergefallen sein könnte. Wussten ihre Geschwister etwas? Aber wie könnte man sie ausfragen? Es waren arrogante, selbstsichere Kinder, die wenig geneigt waren, sich Erwachsenen zu offenbaren . Würden sie bei diesem verfluchten Ägypten-Vortrag zugegen sein? Er hatte sich erkundigt; Pater Rosieres war tatsächlich ein herausragender Gelehrter, eine Koryphäe auf dem Gebiet der Ägyptologie. Würde es sich lohnen hinzugehen? Würde Blanche dort sein? Sicherlich. Sie würden sie alle mitnehmen wollen, um sie von ihrem Schmerz abzulenken. »Du musst auf andere Gedanken kommen, Blanche, musst etwas unternehmen.«
»Der aggressive Dunkelhäutige wird da sein, das bringt Ablenkung.«
Gaelle tauchte neben ihm auf.
»Ganz schön kalt heute!«
Sie begann sich energisch abzutrocknen, dann ließ sie sich neben ihn fallen.
»Was machen wir heute Abend. Vorausgesetzt natürlich, du bist frei .«
Ja, er war frei, frei wie die Luft, frei wie ein Luftzug zwischen zwei Türen.
»Sollen wir eine Pizza essen gehen?«
»Wie originell! Soll ich für uns kochen?«
»Du kannst kochen?«
»Mein lieber Chib, ich kann alles. Wie in den amerikanischen Filmen, weißt du? Du trinkst ein Glas gut gekühlten Chardonnay, während ich köstliche saftige Steaks brate, und dann führen wir ein geistreiches Gespräch, gespickt mit eleganten sexuellen Anspielungen .«
»Das wird schwer sein, doch ich will's versuchen«, meinte er und verschränkte die Arme hinter dem Nacken.
Die Steaks waren köstlich und saftig gewesen. Der Wein gut gekühlt. Das Gespräch amüsant und der Schluss recht turbulent, dachte Chib, als er seine auf den Fernseher geworfenen Jeans wieder auflas. Gaelle, die bäuchlings zwischen den zerwühlten Laken lag, lächelte ihm zu.
»Für so einen alten Opa schlägst du dich ja ganz tapfer.«
Er warf ihr die Jeans ins Gesicht. Sie streckte ihm die Zunge raus.
»Ich sterbe vor Durst.«
»Champagner oder Mineralwasser?«
»Champagner, mein Prinz!«
Er, der sonst kaum etwas trank, hatte plötzlich ständig Lust, sich zu besaufen. Er öffnete den Kühlschrank. Ob Blanche schon schlief? Wälzte sie sich in ihrem Bett, die Finger in die Laken gekrallt? Versuchte sie, zu beten, zu beten, bis sie das Denken vergaß, bis sie nicht mehr die Schreie ihres Kindes aus den mit Klebstoff versiegelten Lippen hörte?
Er ließ den Korken des Pommery knallen und bespritzte Gaelle mit dem schäumenden Nass. Welch ein Glück, sich betrinken zu können, ohne von seinem Mann oder seiner Schwiegermutter ausspioniert zu werden, ohne jemandem Rechenschaft ablegen zu müssen!
»Woran denkst du?«
»An nichts. In meinem Alter denkt man nicht mehr, man versucht nur zu atmen.«
»Weißt du, mein Bruder hat einen Freund, der bei der Sitte arbeitet.«
»Ich habe nicht vor, auf den Strich zu gehen.«
»Es wäre interessant, herauszufinden, ob jemand aus dem Umfeld der Kleinen in der Kartei steht.«
Er seufzte. Diese Geschichte nahm unheimliche Ausmaße an.
»Ja, das wäre gut«, hörte er sich sagen.
Es war erneut Wind aufgekommen, ein Ostwind, beladen mit schwarzen Wolken. Chib überprüfte noch einmal die Adresse. Kulturzentrum »Les Cedres«, 1027, Route des Ormeaux, Richtung Cabris. Zu seinen Füßen schimmerte die Altstadt ocker- und rosafarben. Die Stadt der Parfüms. Er mochte Grasse nicht, trotz seiner dekadenten Schönheit. Hier hatte er den Eindruck zu ersticken. Zu weit vom Meer entfernt. Zu abgeschlossen, zu konzentrisch. Er gab Gas. Blanche hatte gesagt: »Nach der Tankstelle die Erste rechts.« Blanche. Er hatte sie angerufen, um sie nach der genauen Adresse zu fragen. Es war ihm vorgekommen, als hätten die beiden Tage, die sie sich nicht gesehen hatten, zwei Jahre gedauert. Aber sobald sie angefangen hatte zu sprechen, war es gewesen, als wäre sie immer da gewesen. »Ach, Sie kommen?«, hatte sie gesagt, und er hatte sich befangen, sogar aufdringlich gefühlt. »Ich weiß noch nicht
Weitere Kostenlose Bücher