Schneewittchens Tod
eiskalt durch die Bifokalgläser ihrer Brille. Dann hörte sie Schritte auf den Fliesen und wandte sich um.
Gaelle. Uff! Sie schüttelte lässig ihre rote Mähne und streckte der sprachlosen Belle-Mamie ihre Hand mit den blassrosa lackierten Nägeln entgegen.
»Guten Tag. Wie schön, dass Sie da sind, denn ich benötige ein paar Auskünfte.«
»In welcher Angelegenheit?«, fragte Belle-Mamie und ließ die manikürte, von Altersflecken überzogene Hand sinken.
»Sie verfügen sicher über ein scharfe Beobachtungsgabe«, sagte Gaelle selbstsicher. »Deshalb hätte ich gerne Ihre Meinung zu den möglichen Feinden Ihres Sohnes gewusst. Männer sind oft viel zu vertrauensselig.«
»Ich muss Ihnen Recht geben«, stimmte Belle-Mamie zu und entspannte sich. »Jean-Hugues ist außer Stande, das Böse dort zu erkennen, wo es sich versteckt.«
Verschwinde, Chib, die Damen beginnen ein Gespräch, bei dem du nichts zu sagen hast.
»Entschuldigen Sie, ich bin gleich zurück.«
Er verließ das Zimmer, ohne dass sie es zu bemerken schienen. Gaelle war wirklich unglaublich, die geborene Schauspielerin!
Die Osmonds waren noch immer da, er hörte, wie sie sich mit Blanche unterhielten. Wie schade, dass Belle-Mamie kein Mann war, sie hätte einen idealen Verdächtigen abgegeben.
Plötzlich dachte er daran, dass man das Sperma auf dem Rücken des Fotos analysieren lassen könnte. Er müsste es mitnehmen. Inzwischen könnte er einen Blick in die Schlafzimmer werfen. Auf Zehenspitzen schlich er die Treppe hinauf. Jede Tür war mit einem Keramikschild versehen, das den Namen seines Bewohners anzeigte und mit einem besonderen Motiv geschmückt war. Eine kleine Ente für Eunice, ein Eichhörnchen für Annabelle, ein blauer Hase für Elilou, ein roter Sportwagen für Louis-Marie, ein schwarzes Pferd für Charles. Wirklich altmodisch, brummte Chib, als er in Charles Zimmer trat. Er sah sich schnell die Einrichtung an. Ein schmales Bett mit einer schwarzweiß karierten Decke, ein moderner weißer Schrank, ein schwarzer Schreibtisch, auf dem säuberlich aufgereihte Ordner standen, eine Schale in Form einer Hand, in der Stifte lagen, ein Notizblock, ein Laptop - ein weiß-grünes iBook. An den Wänden zwei Poster: ein Sprinter mit angespannten Muskeln und eine unberührte Schneelandschaft, durch die ein Bär stapfte. Chib griff nach dem Notizblock. Eine angefangene Matheaufgabe. Er öffnete schnell die Schubladen. Schulbücher, Wörterbücher, einige Nummern von Premiere, zwei Informatik-Zeitschriften, ein Foto, das Brad Pitt mit nacktem Oberkörper zeigte und offensichtlich aus einer Zeitschrift ausgeschnitten war. Aha! Nicht Julia Roberts oder Juliette Binoche, sondern Brad Pitt. Hm. Er legte das Foto zurück unter ein Geschichtsbuch und öffnete den Deckel des iBook. Auf dem Bildschirm bunte Würfel, die vor einem marineblauen Hintergrund entstanden.
Er verließ das Zimmer, schloss leise die Tür hinter sich und betrat das von Louis-Marie. Das gleiche schmale Bett mit einer Decke, die mit Bildern der Simpsons bedruckt war, ein weißer Schrank, ein Regal voller Kinder- und Jugendbücher, der schwarze Schreibtisch, auf dem ein aufgeklappter Weltatlas lag, daneben ein Leuchtglobus, eine Federschale mit Stiften, ein weiß-blaues iBook und der letzte Harry Potter, aufgeschlagen bei Kapitel drei. An den Wänden Kinoplakate: Scary Movie 1, Das Empire schlägt zurück, Jurassic Park. Auf dem Bildschirm des iBooks ein blau-roter Spiderman, der an einem Hochhaus emporklettert. In einer Ecke stand ein teurer Aiwa-Synthesizer.
Geräusche. Nicht weit entfernt. Er trat auf den Flur. Unten verabschiedeten sich die Osmonds. Er musste hinunter, das Foto holen. An die Wand gedrückt, schlich er die Treppe hinab, erreichte die Halle. Blanche und die Osmonds standen vor dem Anrichtezimmer, Clotilde bedankte sich bei Colette, die ihr ein provenzalisches Kochbuch überreichte. Chib bog zur Bibliothek ab und lauschte eine Weile an der Tür. Kein Ton. Gaelle und Belle-Mamie waren wohl gegangen. Er drückte die Klinke herunter, doch die Tür blieb geschlossen. Er versuchte es noch einmal. Irgendwer hatte abgeschlossen. War jemand drinnen? Aber wer? Andrieu? War er mal wieder früher als angekündigt zurückgekommen? Chib klopfte leise. Keine Antwort.
»Hier sind wir!«, rief Belle-Mamies hohe Stimme in seinem Rücken. »Im Wintergarten.«
Er ging zu ihnen. Sie tranken Tee.
»Nehmen Sie eine Tasse«, schlug Belle-Mamie vor. »Es gibt nichts Besseres als
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