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Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)

Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)

Titel: Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kahneman
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Ärzte, Pfleger, Sportler und Feuerwehrleute sind auch mit komplexen, aber grundsätzlich geordneten Situationen konfrontiert. Die zutreffenden Intuitionen, die Gary Klein beschrieben hat, sind darauf zurückzuführen, dass System 1 des Experten gelernt hat, Hinweisreize mit hoher prognostischer Gültigkeit zu nutzen, auch wenn System 2 nicht gelernt hat, sie zu benennen. Stockpicker und Politikwissenschaftler operieren dagegen in einer Umgebung, in der Informationen keinerlei prognostische Aussagekraft besitzen (zero-validity environment). In ihrem Versagen spiegelt sich die grundlegende Nichtvorhersagbarkeit der Ereignisse wider, die sie zu prognostizieren versuchen.
    Einige Umgebungen sind nicht bloß unregelmäßig, sondern sogar regelrecht verhängnisvoll. Robin Hogarth beschrieb »fatale« Umgebungen, in denen die Erfahrung Experten mit hoher Wahrscheinlichkeit die falschen Lektionen lehrt. Er entlehnt von Lewis Thomas das Beispiel eines Arztes zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der oftmals intuitiv zu ahnen glaubte, wann Patienten im Begriff waren, Typhus zu entwickeln. Leider überprüfte er seine Ahnungen, indem er die Zungen der verschiedenen Patienten abtastete, ohne sich dazwischen die Hände zu waschen. Als ein Patient nach dem anderen erkrankte, entwickelte der Arzt ein Gefühl klinischer Unfehlbarkeit. Seine Vorhersagen waren zutreffend  – aber nicht weil er über eine professionelle Intuition verfügte!
     
    Meehls Kliniker waren nicht unfähig, und ihr Versagen war nicht auf einen Mangel an Talent zurückzuführen. Ihre Erfolgsbilanz war deshalb so mager, weil ihnen Aufgaben zugewiesen wurden, die keine einfachen Lösungen hatten. Die Kliniker operierten in einem Umfeld, das nicht ganz so extrem war wie das zero-validity environment langfristiger politischer Vorhersagen, aber sie waren mit Situationen konfrontiert, die keine sehr genauen Prognosen erlaubten. Wir wissen dies, weil die besten statistischen Algorithmen, obgleich sie eine höhere Genauigkeit besitzen als menschliche Urteile, nicht sehr genau sind. Tatsächlich haben die Studien Meehls und seiner Nachfolger nie einen Fall nachgewiesen, in dem die Kliniker einen Hinweis mit hoher prognostischer Gültigkeit, den der Algorithmus erfasste, vollständig übersahen. Ein extremes Versagen dieser Art ist unwahrscheinlich, weil menschliches Lernen normalerweise effizient ist. Wenn ein Hinweisreiz mit hoher Vorhersagekraft existiert, werden ihn
menschliche Beobachter finden, falls sie eine geeignete Gelegenheit dafür bekommen. In »verrauschten« Umgebungen sind statistische Algorithmen Menschen aus zwei Gründen überlegen: Sie spüren mit höherer Wahrscheinlichkeit schwach prädiktive Hinweisreize auf, und sie werden mit viel höherer Wahrscheinlichkeit auf lange Sicht mittelmäßig genaue Vorhersagen liefern, indem sie solche Hinweise konsequent verwerten.
    Es ist falsch, jemandem einen Vorwurf daraus zu machen, dass er in einer unvorhersagbaren Welt keine genauen Vorhersagen liefert. Allerdings ist es durchaus angemessen, Experten dafür zu rügen, dass sie glauben, eine unmögliche Aufgabe erfolgreich bewältigen zu können. Die Behauptung, man habe in einer unvorhersagbaren Situation die richtigen Intuitionen gehabt, ist bestenfalls ein Selbstbetrug. Wenn prädiktive Hinweise fehlen, sind intuitive »Treffer« entweder auf Glück oder auf Lügen zurückzuführen. Wer diese Schlussfolgerung erstaunlich findet, glaubt noch immer, Intuition wäre eine magische Angelegenheit. Prägen Sie sich diese Regel ein: Wenn es keine stabilen Regelmäßigkeiten in der Umgebung gibt, kann man der Intuition nicht vertrauen.

Feedback und Übung
    Einige Regelmäßigkeiten in der Umgebung lassen sich leichter entdecken und anwenden als andere. Denken Sie daran, wie Sie Ihren Bremsstil beim Autofahren entwickelt haben. In dem Maße, wie Sie die Fähigkeit erwarben, Kurven zu fahren, lernten Sie, wann Sie vom Gas gehen und wann und wie fest Sie auf die Bremse treten sollten. Kurven unterscheiden sich, und die Variabilität, die Sie beim Lernen erlebten, stellt sicher, dass Sie jetzt bei jeder Kurve zur richtigen Zeit und mit der richtigen Stärke bremsen können. Die Bedingungen zum Erlernen dieser Fähigkeit sind ideal, weil Sie jedes Mal, wenn Sie durch eine Kurve fahren, sofort ein eindeutiges Feedback erhalten: die leichte Belohnung eines flüssigen Lenkmanövers oder die milde Bestrafung einer gewissen Schwierigkeit beim Lenken des Fahrzeugs, wenn man

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