Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)
Fakten standen in eklatantem Widerspruch zur Erwartungsnutzentheorie. Einige davon waren bereits beobachtet worden, andere waren neu. Dann konstruierten wir eine Theorie, die die Erwartungsnutzentheorie gerade so weit modifizierte, dass sie unsere Sammlung von Beobachtungen erklärte. Das war die Neue Erwartungstheorie.
Unsere Herangehensweise an das Problem war von dem Geist eines Teilgebiets der Psychologie geprägt, der sogenannten Psychophysik, die von dem deutschen Psychologen und Mystiker Gustav Theodor Fechner (1801–1887) begründet und als solche benannt wurde. Fechner war wie besessen von der Beziehung zwischen Geist und Materie. Auf der einen Seite gibt es eine veränderliche physikalische Größe, wie etwa die Energie einer Lichtquelle, die Frequenz eines Tons oder einen Geldbetrag. Andererseits gibt es das subjektive Erleben von Helligkeit, Tonhöhe oder Wert. Schwankungen der physikalischen Größe verursachen auf rätselhafte Weise Schwankungen in der Intensität oder Qualität des subjektiven Erlebens. Fechners Vorhaben bestand darin, die psychophysischen Gesetze
zu finden, die einen Zusammenhang herstellen zwischen der subjektiven Größe im Bewusstsein des Beobachters und der objektiven Größe in der materiellen Welt. Er behauptete, bei vielen Dimensionen handele es sich um eine logarithmische Funktion – was schlichtweg bedeutet, dass eine Erhöhung der Reizintensität um einen bestimmten Faktor (zum Beispiel um 1,5 oder 10) immer den gleichen Zuwachs auf der psychologischen Skala ergibt. Wenn die Steigerung der Energie des Schalls von zehn auf hundert Einheiten physikalischer Energie die psychologische Intensität um vier Einheiten steigert, dann geht eine weitere Erhöhung der Reizintensität von hundert auf tausend ebenfalls mit einer Steigerung der psychologischen Intensität um vier Einheiten einher.
Bernoullis Irrtum
Wie Fechner ganz genau wusste, war er nicht der Erste auf der Suche nach einer Funktion, die den Zusammenhang zwischen der psychologischen Intensität und der physikalischen Stärke des Reizes beschrieb. Im Jahr 1738 hatte der Schweizer Naturwissenschaftler Daniel Bernoulli Fechners Überlegung vorweggenommen und sie auf den Zusammenhang zwischen dem psychologischen Wert oder der Begehrtheit von Geld (heute »Nutzen« genannt) und dem tatsächlichen Geldbetrag angewandt. Er behauptete, ein Geschenk in Höhe von 10 Dukaten habe für jemanden, der bereits 100 Dukaten besitze, den gleichen Nutzen wie ein Geschenk von 20 Dukaten für jemanden, dessen gegenwärtiges Vermögen 200 Dukaten betrage. Natürlich hatte Bernoulli recht: Normalerweise geben wir Einkommensänderungen in Prozent an, so sagen wir zum Beispiel: »Sie bekam eine 30-prozentige Gehaltserhöhung.« Dahinter steht die Annahme, dass eine 30-prozentige Steigerung bei Reichen und bei Armen eine ganz ähnliche psychologische Wirkung hervorrufen wird, was bei einer Erhöhung um 100 Dollar nicht der Fall ist. 2 Wie beim Fechnerschen Gesetz ist die psychologische Reaktion auf eine Vermögensänderung umgekehrt proportional zum anfänglichen Vermögenszustand, was zu der Schlussfolgerung führt, dass der Nutzen eine logarithmische Funktion des Vermögens ist. Wenn diese Funktion zutreffend ist, dann trennt die gleiche psychologische Distanz 100 000 von 1 Million Dollar und 10 Millionen von 100 Millionen Dollar. 3 Ausgehend von seinen psychologischen Erkenntnissen über den Nutzen von Reichtum, schlug Bernoulli einen völlig neuen Ansatz zur Bewertung von Lotterien vor, ein wichtiges Thema für die Mathematiker seiner Zeit. Vor Bernoulli waren Mathematiker
davon ausgegangen, dass Lotterien nach ihrem Erwartungswert beurteilt werden müssten: einem gewichteten Mittelwert der möglichen Ergebnisse, wobei jedes Ergebnis mit seiner Wahrscheinlichkeit gewichtet wird.
So beträgt zum Beispiel der Erwartungswert einer 80-prozentigen Chance, 100 Dollar zu gewinnen, und einer 20-prozentigen Chance, 10 Dollar zu gewinnen, 82 Dollar (0,8 × 100 + 0,2 × 10).
Stellen Sie sich jetzt selbst folgende Frage: Was würden Sie lieber als Geschenk bekommen: diese Lotterie oder 80 Dollar sicher? Fast alle bevorzugen die sichere Option. Wenn Menschen unsichere Aussichten nach ihrem Erwartungswert beurteilen würden, dann würden sie die Lotterie vorziehen, weil 82 Dollar mehr sind als 80 Dollar. Bernoulli wies darauf hin, dass Menschen Lotterien tatsächlich nicht in dieser Weise beurteilen.
Bernoulli beobachtete, dass die meisten
Weitere Kostenlose Bücher