Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)
viel lauter als der andere wäre. 8
Betrachten wir ein Beispiel, dem wir später erneut begegnen werden:
Julie las flüssig, als sie vier Jahre alt war.
Stimmen wir jetzt Julies hervorragende Lesefähigkeit als Kind mit der folgenden Intensitätsskala ab:
Wie groß ist ein Mann, der so groß ist, wie Julie frühreif ist?
Was halten Sie von 1,80 Meter? Offenkundig zu klein. Wie wäre es mit 2,10 Meter? Vermutlich zu groß. Sie suchen nach einer Körpergröße, die genauso bemerkenswert ist wie die Leseleistung im Alter von vier Jahren. Ziemlich bemerkenswert, aber nicht außergewöhnlich. Mit 15 Monaten lesen zu können wäre außergewöhnlich, vielleicht wie ein Mann, der 2,30 Meter groß wäre.
Welcher Einkommenshöhe in Ihrem Beruf entspricht Julies Leseleistung?
Welches Verbrechen ist so schwer, wie Julie frühreif ist?
Welche Abschlussnote an einem Ivy-League-College (Eliteuniversitäten im Nordosten der USA) entspricht Julies Lesefähigkeit?
Nicht sehr schwer, oder? Außerdem können Sie davon ausgehen, dass Ihre Abgleiche weitgehend denen anderer Personen in Ihrem kulturellen Milieu entsprechen werden. Wenn Versuchspersonen aufgefordert werden, Julies
Notendurchschnitt auf der Grundlage der Information über das Alter, in dem sie lesen lernte, vorherzusagen, beantworten sie dies dadurch, dass sie von einer Skala in eine andere Skala übersetzen und den passenden Notendurchschnitt auswählen. Wir werden sehen, wieso diese Methode der Vorhersage durch Abstimmung statistisch falsch ist – auch wenn sie für System 1 vollkommen natürlich ist, und für die meisten Menschen, mit Ausnahme von Statistikern, ist sie auch für System 2 akzeptabel.
Die mentale Schrotflinte
System 1 führt zu jedem Zeitpunkt viele Berechnungen aus. Einige davon sind Routinebewertungen, die ständig ablaufen. Sobald Ihre Augen geöffnet sind, berechnet Ihr Gehirn eine dreidimensionale Repräsentation all dessen, was sich in Ihrem Gesichtsfeld befindet, einschließlich der Gestalt von Objekten, ihrer Positionen im Raum und ihrer Identitäten. Es bedarf keiner Absicht, um diese Operation oder die fortwährende Überwachung auf Verstöße gegen Erwartungen auszulösen. Im Unterschied zu diesen Routinebewertungen werden andere Berechnungen nur durchgeführt, wenn sie notwendig sind: Man bewertet nicht unentwegt, wie zufrieden oder vermögend man ist, und selbst wenn man politiksüchtig ist, bewertet man nicht in einem fort die Aussichten des Präsidenten. Die gelegentlichen Urteile erfordern eine gezielte Willensanstrengung. Man muss sie absichtlich herbeiführen.
Man zählt nicht automatisch die Anzahl der Silben jedes Wortes, das man liest, aber man kann es tun, wenn man sich dazu entscheidet. Doch unsere Kontrolle über intendierte Berechnungen ist keineswegs präzise: Wir berechnen oftmals viel mehr, als wir wollen oder brauchen. Ich nenne diese überschüssigen Berechnungen »mentale Schrotflinte«. Man kann mit einer Schrotflinte kein Punktziel anvisieren, weil sie Schrotkugeln verschießt, die streuen, und es scheint für System 1 fast genauso schwer zu sein, nicht mehr zu tun als das, was System 2 von ihm fordert. Zwei Experimente, deren Beschreibungen ich vor langer Zeit las, legten mir dieses Bild nahe.
Den Teilnehmern eines Experiments wurden Wortpaare vorgespielt, und sie sollten so schnell wie möglich eine Taste drücken, sobald sie bemerkten, dass sich die Wörter reimten. 9 Die Wörter in folgenden beiden Paaren reimen sich:
Vote – Note
Vote – Goat
Der Unterschied ist für Sie so offensichtlich, weil Sie die beiden Paare sehen. Vote und Goat reimen sich, aber sie werden unterschiedlich buchstabiert. Die Teilnehmer hörten nur die Wörter, aber sie wurden auch von der Schreibweise beeinflusst. Sie erkannten deutlich langsamer, dass sich die Wörter reimten, wenn deren Schreibweisen voneinander abwichen. Obgleich die Instruktionen von ihnen nur einen Vergleich der Laute verlangten, verglichen die Teilnehmer auch die Schreibung, und die Nichtübereinstimmung in der irrelevanten Dimension verlangsamte sie. Die Absicht, eine Frage zu beantworten, rief eine andere Frage hervor, die nicht nur überflüssig war, sondern die Lösung der Hauptaufgabe erschwerte.
In einer anderen Studie hörten die Versuchspersonen Satzfolgen, mit der Anweisung, so schnell wie möglich eine Taste zu drücken, um anzugeben, ob der Satz im wörtlichen Sinne wahr ist, und eine andere Taste, wenn der Satz im wörtlichen Sinne nicht
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