Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)
lange Linie vom unteren Rand der Seite aufwärts. Nehmen Sie nun ein anderes Blatt, setzen Sie am oberen Rand an und ziehen Sie eine Linie nach unten, bis sie 6,5 Zentimeter vom unteren Rand entfernt ist. Vergleichen Sie die Linien. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass Ihre erste Schätzung von 6,5 Zentimetern kürzer ist als die zweite. Der Grund dafür ist, dass Sie nicht genau wissen, wie eine solche Linie aussieht; es gibt eine Unsicherheitsspanne. Wenn Sie unten auf der Seite beginnen, hören Sie in der Nähe des unteren Endes des Unsicherheitsbereichs auf; wenn Sie oben auf der Seite beginnen, ziehen Sie den Strich bis zum oberen Ende dieses Bereichs durch. Robyn LeBoeuf und Shafir fanden im Alltag viele Beispiele für diesen Mechanismus. Ungenügende Anpassung erklärt perfekt, weshalb Sie vermutlich zu schnell fahren, wenn Sie von einer Autobahn auf eine Landstraße kommen – insbesondere, wenn Sie sich beim Fahren mit jemandem unterhalten. Unzureichende Anpassung ist auch eine Ursache für Spannungen zwischen verzweifelten Eltern und Teenagern, die in ihren Zimmern laute Musik hören. LeBoeuf und Shafir bemerken dazu: »Ein wohlmeinendes Kind, das ungewöhnlich laute Musik leiser stellt, um der Forderung der Eltern nachzukommen, Musik bei ›zumutbarer‹ Lautstärke zu hören, korrigiert einen hohen Anker möglicherweise nicht ausreichend und hat vielleicht das Gefühl, dass echte Kompromissversuche nicht als solche wahrgenommen werden.« 1 Der Fahrer und das Kind korrigieren gezielt nach unten, aber sie korrigieren nicht ausreichend.
Betrachten wir jetzt diese Fragen:
Wann wurde George Washington Präsident?
Wie hoch ist die Siedetemperatur von Wasser auf dem Gipfel des Mount Everest?
Wenn Sie über diese Fragen nachdenken, fällt Ihnen als Erstes ein Anker ein, und Sie wissen sowohl, dass er falsch ist, als auch die Richtung der richtigen Antwort. Sie wissen auf Anhieb, dass George Washington erst nach der Unterzeichnung der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1776 Präsident werden konnte, und Sie wissen auch, dass die Siedetemperatur von Wasser auf dem Mount Everest unter hundert Grad Celsius liegt. Sie müssen in die richtige Richtung korrigieren, indem Sie Argumente finden, um sich vom Anker zu entfernen. Wie bei den Linien werden Sie vermutlich anhalten, wenn Sie nicht sicher sind, ob Sie sich weiterbewegen sollten – am nahen Rand der Unsicherheitsregion.
Nick Epley und Tom Gilovich fanden Belege dafür, dass die Anpassung ein bewusster Versuch ist, Gründe zu finden, um sich vom Anker zu entfernen: Versuchspersonen, die angewiesen werden, ihren Kopf zu schütteln, wenn sie den Anker hören, als würden sie diesen ablehnen, bewegen sich weiter vom Anker weg, und Menschen, die nicken, zeigen eine verstärkte Ankerung. 2 Epley und Gilovich bestätigten auch, dass die Anpassung ein mühsamer Prozess ist. Menschen korrigieren weniger stark (bleiben näher beim Anker), wenn ihre mentalen Ressourcen erschöpft sind, entweder weil ihr Gedächtnis mit Ziffern befrachtet ist oder weil sie leicht betrunken sind. 3 Unzureichende Anpassung ist das Versagen eines schwachen oder trägen Systems 2.
Also wissen wir heute, dass Amos zumindest in einigen Fällen von Ankereffekten recht hatte, die mit einer willentlichen System-2-Anpassung in eine bestimmte Richtung von einem Anker weg verbunden sind.
Ankerung als ein Priming-Effekt
Als Amos und ich über das Phänomen der Ankerung diskutierten, stimmte ich ihm zu, dass es gelegentlich zu Anpassungen kommt, aber ich fühlte mich unwohl dabei. Die Anpassung ist eine willentliche und bewusste Aktivität, aber in den meisten Fällen von Ankerung gibt es kein entsprechendes subjektives Erleben. Betrachten wir diese beiden Beispiele:
War Gandhi mehr oder weniger als 144 Jahre alt, als er starb?
Wie alt war Gandhi, als er starb?
Sind Sie dadurch zu Ihrem Schätzwert gelangt, dass Sie 144 nach unten korrigierten? Vermutlich nicht, und dennoch hat sich die absurd hohe Zahl auf Ihren Schätzwert ausgewirkt. Ich vermutete, dass Ankerung ein Fall von Suggestion ist. Wir benutzen dieses Wort, wenn uns jemand allein dadurch, dass er uns etwas ins Bewusstsein ruft, dazu bringt, dieses Etwas zu sehen, zu hören oder zu spüren. So veranlasst die Frage »Spüren Sie jetzt eine leichte Taubheit in Ihrem linken Bein?« nicht wenige Menschen dazu, zu berichten, dass sich ihr linkes Bein tatsächlich ein wenig seltsam anfühlt.
Amos war gegenüber intuitiven Ahnungen
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