Schnitt: Psychothriller
Weshalb auch immer.
Gabriels Blick wandert über das Gebäude, ganz nach rechts, wo im dritten Stock zwei Fenster erleuchtet sind. Das Stationszimmer. Unmittelbar darunter lagen früher die zwei Besuchszimmer. Im kleineren der beiden, einem kargen Raum, nur mit im Boden verschraubten Tischen und Stühlen eingerichtet, hatte sein zweites Leben begonnen, ohne jede Vorwarnung.
Zwei Pfleger der Tagschicht, Giuseppe und Martin, hatten sein Zimmer betreten. Gabriels Augen waren geschlossen, aber er roch die beiden, so wie er zu dieser Zeit immer alles roch oder spürte, ganz so, als hätte er keine Haut und als könnte jede Nuance einer menschlichen Schwingung ungefiltert zu ihm durchdringen.
Er roch also Giuseppes Aftershave, das er seit vier Tagen auflegte, weil seit sechs Tagen Martin auf der Station arbeitete. Martin allerdings roch nach Frau. Er war ein Beschränktling mit dem Körper eines Achills, und an ihm klebte, mal stärker, mal schwächer, das Parfüm von Dr. Vanja, der Assistenzärztin der Station, die ständig nach Achills halbgöttlichem Arsch schielte.
Gabriel hasste es, das alles mitzubekommen, die Gerüche, die Stimmungen, es prasselte alles trotz der Medikamente auf ihn ein, und er konnte nichts dagegen tun. Er war in seinem Innersten gefangen, alle Sensoren auf Input geschaltet, nur hinauslassen konnte er nichts; alle Ventile waren geschlossen.
»He, Lucky Luke«, sagte Giuseppe munter, obwohl er natürlich wusste, dass er ihn nicht so nennen sollte. »Hast Besuch heute.«
»Kein Interesse«, leierte Gabriel. Die Medikamente machten seine Zunge zu einem lahmen, fetten Nilpferd.
Schweigend lösten sie die Riemen an seinen Armen, schnallten ihn los von seinem Bett, setzten ihn in einen Rollstuhl, nicht ohne seine Hände an den Lehnen zu fixieren, und schoben ihn zum Besucherraum.
Und da saà er. Schmal und unscheinbar wie ein Buchhalter, mit einem hellgrauen Trenchcoat und einem dunklen Trilby-Hut, den er vor sich auf den Tisch gelegt hatte, so dass Gabriel sein damals schon schütteres Haar sehen konnte.
Guiseppe und Martin parkten ihn vor dem festgedübelten Tisch wie einen Greis â dabei war er gerade einmal achtzehn â und lieÃen ihn mit dem Buchhalter alleine.
Der Mann musterte ihn mit irritierend harten grauen Augen. Er roch nach Tabak, List und Grausamkeit. Kein Buchhalter. Vielleicht Arzt, vielleicht sogar etwas noch Schlimmeres.
»Hallo Gabriel. Wie geht es dir?«, fragte er. Seine Stimme rollte, sein dezenter russischer Akzent schwang mit wie ein warnendes Beben.
»Ich kenn Sie nicht«, stellte Gabriel gleichgültig fest. Seine Stimme holperte wie eine rostige Fahrradkette. Das Sedativum in seinem Blut machte ihn stumpf.
»Sarkov. Mein Name ist Yuri Sarkov, und â«
»Ich kenn Sie nicht«, wiederholte Gabriel teilnahmslos. »Hauen Sie ab.«
Yuri Sarkov rührte sich so wenig wie ein Stahlträger. »â ich kenne, kannte deinen Vater, er â«
»Mein Vater war ein Arschloch. Wenn Sie mit ihm zu tun hatten, sind Sie wohl auch eins.«
Yuri lächelte. Kein gezwungenes Lächeln, kein Gute-Miene-zum-bösen-Spiel-Lächeln. Vorsicht, Luke. Er ist ein Spieler! Und er ist sicher, dass er gewinnen wird.
Yuri erhob sich, nahm seinen Hut vom Tisch und sah auf Gabriel in seinem Rollstuhl hinab. »Letzten Endes geht es auch nicht um deinen Vater. Das ist vorbei. Worum es hier wirklich geht, ist, ob du hier rauswillst.«
Und ob! Aber das werde ich dir nicht verraten. »Lassen Sie mich in Ruhe.« Gabriels Kopf sackte nach vorne, er hatte kaum mehr Kraft, ihn zu halten. »Denken Sie, ich weià nicht, dass das ân Test ist? Ich mache keine Tests mehr.« Kurze Pause, Luft holen. Dann: »Sagân Sie Dressler, keine Tests mehr.«
»Ich bin kein Arzt. Ich weiÃ, Gabriel, Ãrzte sind die Pest. Die sagen dir, was du denken darfst und was nicht. Die sagen dir, was richtig ist und was nicht. Aber ich glaube, die liegen hier falsch. Ich glaube, du kannst sehr gut selbst auf dich aufpassen.«
Vorsicht, Luke. Er ist in deinem Kopf. Keine Ahnung, wie er reingekommen ist, aber er ist da.
»Ich kann dich hier rausholen, Gabriel.«
Er lügt. Das hier ist die Geschlossene. Da geht man nicht mal eben raus.
»Du glaubst mir nicht?«, fragte Yuri.
Siehst du? Ich sage dir, er ist in deinem Kopf. Er weiÃ, was du denkst.
Nein, nein, dachte Gabriel.
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