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Schnittmuster

Titel: Schnittmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Slater Sean
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achtjähriges Kind – nicht Kind 157. Dieser Junge war vor langer Zeit gestorben.
    Â»Die Macht des Geistes«, murmelte er verdrossen. Anders konnte es gar nicht sein.
    Er versuchte mental abzuschalten und zwang sich weiterzugehen. Sein Körper gehorchte, sein Geist nicht. Mit jedem Schritt wurden die Erinnerungen an jene Zeit facettenreicher. Die Bilder deutlicher.
    Bis er den ganzen Albtraum wieder erlebte.
    Mutter schrie.
    Schrie.
    Schrie …
    Ihre flehenden Schreie erfüllten nächtelang das Camp. Und das grausam krötenartige Gelächter der Wachen – als Mutter ihre Vorfahren anrief, sie zu retten oder sie wenigstens eines schnellen Todes sterben zu lassen. Aber die Stunden verstrichen, und ihr Flehen blieb ungehört.
    Kind 157 bäumte sich in seiner Zelle auf, zusammengepfercht mit den anderen Kindern. Manche wimmerten vor Hunger, andere vor Schmerzen. Wieder andere hatten sich schon lange nicht mehr gerührt. Er beachtete sie nicht weiter; seine Mutter war sein Ein und Alles. Ihr Klagen und Flehen schmerzte in seinen Ohren, er versuchte es auszublenden, so zu tun, als wüsste er nicht, was mit ihr passierte. Er wusste es. Er hatte es immer gewusst.
    Einmal, am Ende des Tages, als der Wärter kam, um eine dünne heiße Brühe zu verteilen, glückte es Kind 157, den Schlüssel von dem Ring zu stehlen, den der Mann nachlässig an einen Haken an der Wand gehängt hatte. Kaum hatte der Wärter die Zelle verlassen, begann Kind 157, seinen mageren Knöchel aus der Fußfessel zu befreien, mit der er am Boden festgemacht war.
    Es war eine langwierige und schmerzhafte Angelegenheit.
    Als er sein Bein befreit hatte, war es tiefe Nacht, und es wurde noch viel später, bis der Schmerz so weit nachließ, dass er das Bein belasten konnte. Sein blutender Fuß nur noch rohes Fleisch, hinkte er zur Tür, schloss auf und schlüpfte ins Freie.
    Er hatte keinen Plan. Kein Training. Keine Ahnung, wie das Camp angelegt war.
    Aber er hatte keine Wahl.
    Vater war schon so lange weg, dass er die Tage nicht mehr zu zählen vermochte. Auf den Killing Fields, und von dort kehrte niemand zurück, so hieß es. Schwestern Du und Hoc waren tot, die Wärter hatten ihnen mit Stahlstangen das Genick gebrochen, um Munition zu sparen. Die Einzigen, die bislang überlebt hatten, waren er und Tran – Kind 158 – und Baby Loc, irgendwo im Ostgebäude bei den anderen kleinen Kindern.
    Kind 157 kannte die Wahrheit. Er war der Älteste. Und der Einzige, der seine Mutter würde retten können.
    Die Nacht war heiß und schwarz. Kind 157 humpelte durch das Lager, eine bleiche Mondsichel sein einziges Licht. Er war erst acht Jahre alt und klein für einen Jungen. »Eine Feldmaus« nannte Vater ihn oft. Auf halbem Weg durch das Camp wurde er von One-tooth geschnappt, als er sich geduckt durch die Reissäcke schlich.
    Â»Verräter, Verräter«, rief der Wärter, seine Stimme brutal und scharf. Er zerrte Kind 157 an den Haaren heraus. Zog ihn dicht vor sein Grinsgesicht. »Du willst was erleben, jetzt wirst du was erleben, Verräter. Viel, viel erleben, oh ja.«
    Kind 157 versuchte krampfhaft, sich aus der Umklammerung zu befreien, aber damit provozierte er One-tooth lediglich. Der Wärter brüllte ihn an, warf ihn in den Schmutz. Schlug zu, bis das Kind sein eigenes Blut schmeckte und sich nicht mehr rührte. Schlug zu, bis seine Fäuste müde wurden.
    Dann rief er die anderen Wärter, gemeinsam schleppten sie ihn zu der Wiese östlich des Hauptgebäudes. Wo das Gras immer rot war und die Erde weich und matschig.
    Mitten auf der Wiese stand der Nagelbaum – ein dicker abgestorbener Stamm, dessen abgesägte Äste lange, in die Rinde geschlagene Nägel bildeten. Am Fuß dieses bizarren Baumes lagen zahllose Knochen verstreut.
    Die Reste der Kleinen.
    Â»Wir haben etwas ganz Besonderes für dich«, erklärte ihm One-tooth.
    Bevor Kind 157 die Bedeutung seiner Worte begriff, kamen zwei weitere Wärter aus dem nächstliegenden Gebäude angelaufen. Sie hatten einen kleinen Sack dabei. Zunächst dachte er, es wäre Reis oder Getreide darin – vielleicht wollten sie ihm etwas voressen und sich einen Spaß daraus machen, dass er am Verhungern war. Aus dem Sack hing jedoch ein winziger Arm heraus, und er realisierte entsetzt:
    Â»Baby Loc!«
    Kind 157 versuchte aufzustehen. Er wehrte sich verzweifelt

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