Schnittstellen
einem großen Stock geschlagen hatte. Aber ob das damit zu tun hatte, dass Anna seiner Mutter ähnlich sieht? Vielleicht etwas weit hergeholt.
Jedenfalls ist Marvin nicht gekommen. Anna ist natürlich enttäuscht, Meike nimmt die Nachricht gleichmütig hin. »Er hätte ja wenigstens absagen können«, meint sie nur und zieht sich in ihr Zimmer zurück.
Ich fühle vor allem mit Anna.
Die Welt ist eine Baustelle. Als ich nach den Ferien die Klasse 7 übernahm, hielt ich eine kleine Antrittsrede an meine Schüler und Schülerinnen. Ich wies darauf hin, dass wir zusammen Lernerfolge erzielen wollen, dass Leistung auf jeden Fall eine Forderung ist, der wir uns stellen müssen. Ich betonte aber, dass es auch um unser soziales Miteinander geht. Dass es an uns liegt, wie wir miteinander umgehen und ob wir uns auf den Schulbesuch freuen oder er uns Bauchschmerzen oder sogar Angst beschert. Zum Schluss fügte ich noch hinzu, dass keiner mit Schwierigkeiten allein sein sollte, die ihm über den Kopf wachsen, dass ich als Klassenlehrerin in solchen Fällen ebenso zur Verfügung stände, wie die Verbindungslehrer oder die Vertrauenslehrerin der Schule.
Drei Tage später kam Leslie, eine Schülerin, die aus dem Kongo stammt, in Begleitung ihrer besten Freundin auf mich zu. Ich merkte deutlich, dass Leslie etwas Schwerwiegendes auf dem Herzen hatte. Sie druckste lange herum. Mit Unterstützung der Freundin vertraute sie mir endlich an, dass sie von ihrem Pflegevater, der zugleich ihr Onkel ist, geschlagen werde. Ich war baff. Der Onkel hatte sich mir als kultivierter Herr vorgestellt, der äußersten Wert darauf lege, dass seine Kinder, ebenso wie seine Nichte, eine gute Ausbildung genießen und dass er sich für Leslie nach der Festigung ihrer Deutschkenntnisse einen gymnasialen Abschluss wünscht. Und dieser Herr soll Leslie schlagen? Ich finde heraus, dass das Pflegeverhältnis offenbar eine private Abmachung zwischen der Mutter des Mädchens, die keine Aufenthaltserlaubnis für Deutschland hat, und ihrem Bruder ist. Leslie und ihre Freundin bleiben bei ihrer Darstellung, und ein Arzttermin ergibt, dass das Mädchen tatsächlich misshandelt wird. Neben neuen Verletzungen zeigt der Rücken alte Vernarbungen von Schlägen mit einem Gürtel. Nun ist die Frage, wie Leslie unbeschadet aus der Familie herauskommt, denn sie steht unter ständiger Kontrolle, nicht einmal telefonieren darf sie ohne Aufsicht. Mit dem Jugendamt wird vereinbart, dass sie in den nächsten Tagen wie gewohnt zur Schule gehen soll, um dann von einer Betreuerin in eine Jugendwohngruppe begleitet zu werden. Die Aktion soll übermorgen starten, und ich hoffe, dass alles gut geht.
Meike
Meine Mutter erzählt immer wieder und wieder von irgendwelchen schwierigen Fällen in der Schule. Manchmal hängt mir das zum Hals raus. Ich komme nach Hause und sie fängt an, davon zu quatschen, was X und Y und Z gemacht haben. Dabei setzt sie voraus, dass ich X, Y und Z total gut kenne. Sie kommt gar nicht auf den Gedanken, dass mir diese Namen absolut nichts sagen und ich ihren Geschichten nicht folgen kann, schon gar nicht, wenn sie mich so derart aufgeregt zutextet. Oft, wenn sie nach Hause kommt und ich ihr etwas erzählen oder sie etwas fragen möchte, motzt sie mich an, sie hätte jetzt keine Zeit, sie wolle sich erst einmal ausruhen; wenn ich ihr dann entgegne, dass sie mich auch immer vollquatscht, wenn ich zur Tür hereinkomme, überhört sie das. Sie wird wütend und beginnt zu brüllen.
»Immer wollt ihr irgendwas von mir! Seht ihr nicht, dass ich so viel für euch tue! Warum nimmt niemand auf mich Rücksicht? Ich muss immer auf alle Rücksicht nehmen, aber mich nutzt ihr aus, wo es nur geht!«
Mir bleibt da nicht viel anderes übrig, als zurückzuschreien. »Dann mach halt nicht so viel! Lass uns doch mal allein machen, niemand zwingt dich dazu, für uns einzukaufen, zu kochen und zu waschen! Tu nicht immer so, als seiest du das arme Opfer und wir die anstrengenden Barbaren, du kannst genauso nervig sein!«
»Dann mach ich jetzt gar nichts mehr! Dann könnt ihr mal sehen, wo ihr bleibt!«
»Dann mach halt nichts mehr! Aber mach auch wirklich mal nichts und droh es nicht immer nur an!« Meine Mutter kann mich so wütend machen wie kein anderer. Ihre Opferrolle, was soll das? Ich fühle mich auch überfordert, die Schule überfordert mich, mich überfordern andere Menschen, und mit denen werde ich ständig konfrontiert. Sie soll nicht so tun, als ob sie die
Weitere Kostenlose Bücher