Schnittstellen
fehlte, ist nun immer häufiger krank.
Meike
Dieser Amoklauf von Erfurt. Schon erschreckend. Es gibt Momente, in denen finde ich unfassbar, wie Menschen anderen Menschen so etwas antun können. Es gibt aber auch Momente, in denen denke ich, wieso denn nicht? Und wieso laufen lediglich Jungen Amok? Ich sollte Amok laufen, damit mal ein Mädchen die ganze Aufmerksamkeit bekommt. Ich wäre auch nicht so bescheuert, mich danach umzubringen. Das ist feige. Können die nicht dazu stehen, was sie getan haben? Können die nicht dazu stehen, dass sie der Gesellschaft ein Spiegelbild gezeigt haben? Die Gesellschaft tötet jeden Tag. Dieses System tötet jeden Tag. Die Gesellschaft darf das. Die darf andere Menschen kaputtmachen. Denn die Gesellschaft, das sind viele, und die Mehrheit hat immer recht. Wenn dann ein Einzelner hingeht und ein paar Menschen erschießt, dann ist das plötzlich nicht mehr okay. Irgendwie verrückt. Ist doch dasselbe in Grün. Aber das eine ist legal und das andere nicht.
Ich begreife nur nicht, wieso sich diese Attentäter nachher immer selbst umbringen. Damit verpassen sie doch die Chance, ihr Tun zu erklären. Es steckt doch Kritik an der Gesellschaft dahinter. Aber die wird dann einfach unbeachtet gelassen. Die einzige Kritik, die im Mittelpunkt der Diskussionen steht, ist die an irgendwelchen Ballerspielen. Das Böse kommt immer von den PC-Spielen. Aber dass die Gesellschaft die Jugendlichen in den Amok treibt, bleibt außen vor. Die Schule. Die Lehrer. Die Eltern. Die Mitmenschen. Die Anforderungen und Erwartungen, die man nicht erfüllen kann und die einem doch immer wieder und wieder ins Gesicht geschlagen und gerotzt werden, dass die daran schuld sein könnten, dass jemand hingeht und seine angestaute Wut rauslässt, darüber denkt niemand nach. Ich kann das tatsächlich nachvollziehen, dass einer hingeht und Leute abknallt. Ich habe oft das gleiche Bedürfnis. Und ich habe die Befürchtung, dass ich, wenn ich eine Waffe hätte, schon längst Amok gelaufen wäre.
Man kann nicht immer sich selbst hassen. Wir hatten das in Bio. Den Selbsterhaltungstrieb. Im Grunde widerstrebt es dem Menschen doch, sich selbst zu hassen, sich selbst zu zerstören, obwohl er weiß, dass er es nicht anders verdient hat. Da gibt es dann diesen Zwiespalt, zwischen dem Sich-selbst-Hassen, weil es richtig wäre, und dem Sich-selbst-Erhalten, weil es der unumgängliche Instinkt ist. Wenn jemand Amok läuft, überwiegt der Selbsterhaltungstrieb und die unglaubliche Wut und der Hass auf die Menschheit, der den Blick darauf verstellt, was man den einzelnen Menschen antut. Aber weil man sich nicht selbst töten kann und sich nicht immer selbst hassen und fertig machen will, macht man eben die anderen fertig, hasst die anderen und tötet die anderen. Irgendwie logisch, finde ich. Bevor ich mich töte, töte ich doch lieber wen anders. Es kostet anscheinend viel mehr Überwindung, sich selbst zu töten als einen anderen Menschen.
Meine Mutter kann nicht ertragen, wenn ich sage, dass die Menschheit das Leben nicht verdient hat, dass die Menschen alle tot sein sollten. Ich selbst habe keine Angst davor, tot zu sein. Wenn ich sage, die Menschheit soll verschwinden, dann gehe ich davon aus, dass ich selbst auch verschwinde. Viele verstehen mich falsch. »Wie kannst du denn so reden! Du bist doch nicht besser als die anderen! Wieso kannst du darüber entscheiden, ob irgendjemand anderes sterben soll? Und du bist besser und kannst leben, oder was?« Dann unterstellen sie mir irgendwelche komischen narzisstischen Neigungen, und ich gebe mir gar keine Mühe mehr zu erklären, dass ich finde, dass ich genauso verrecken sollte. Aber das finde ich. Ich sehne mich so oft danach zu sterben. Oder besser gesagt: Ich will tot sein. Nicht sterben. Sterben ist etwas anderes als tot zu sein. Sterben stelle ich mir verdammt unangenehm vor. Schmerzhaft. Körperlich schmerzhaft und vielleicht sogar psychisch, wenn man merkt, dass sein Leben zu Ende geht. Aber tot sein? Na, da ist nichts mehr los. Als ob ich mich noch schlecht fühlen könnte, wenn ich tot bin. Ich bekomme den Zustand selbst doch überhaupt nicht mit. Nur das Sterben macht mir Angst.
Meikes Tagebuch
Es ist alles zu dunkel. Keine Lichtquelle vermag die Finsternis zu vertreiben, die so schwer und erdrückend über der Welt liegt.
Ich möchte umkehren, mich umdrehen und zurückrennen. Warum ist alles so düster? So kalt? So … dem Ende nahe und doch viel zu weit davon
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