Schnittstellen
da ein paar Zeilen. Es sind grausame Fantasien, die dieser Gregory zeichnet, Rachefantasien. Meikes Mitgefühl mit dem Protagonisten erstaunt mich, ich schaffe es kaum, eine Passage zu Ende zu lesen, so hart empfinde ich den Stoff.
Als ich das erste Mal einen Pferdeschwanz trug, wurde ich zum Direktor geschickt. Der sagte, ich sähe aus wie ein Mädchen. Da war ich vierzehn. Ich sagte, der neue Freund meiner Mutter würde mich gern am Pferdeschwanz festhalten, wenn er mich in den Arsch fickte.
Ob das der richtige Stoff für eine Jugendliche ist, die selbst nicht mit dem Leben und der Schule klarkommt?
Als ich wieder in die Schule ging, durfte ich das Haar lang tragen, musste aber einmal pro Woche zum Erziehungspsychologen.
Ich schließe das Buch und lege es zurück auf den Boden. Dabei fällt ein eng beschriebenes, gefaltetes Blatt heraus. Ich will es zurück in das Buch schieben, doch dann überlege ich es mir anders. Ich weiß, dass ich das nicht tun sollte, aber nach Entziffern der Überschrift siegt die Neugier über alle Gewissensbisse.
Uromas Geburtstag
Es war so grauenvoll. Mir geht es so schlecht. Heute hat meine Uroma Geburtstag gefeiert. Meine Mutter liebt ihre Oma und findet schrecklich, dass ihr Onkel und seine Frau sie in ein Heim abgeschoben haben. »Und das, wo sie Wohnrecht auf Lebenszeit hatte«, sagt sie. Ich weiß nicht, was das genau bedeutet. Zu ihrem Geburtstag heute haben sie meine Uroma ins Haus meines Großonkels gebracht, und dort hat die ganze Familie gemeinsam gefeiert. Meine Mutter wollte, dass ich ihrer liebsten Oma auf der Geige vorspiele. Ich wollte das nicht. Meine Mutter sagte: »Wir nehmen die Geige mal mit, und dann kannst du dir das noch überlegen.« Dass ich mir das noch überlegen könne, war gelogen. Ich hatte keine Wahl. Es war so widerlich. Ich habe meiner Mutter mehrmals gesagt, dass ich nicht spielen will. »Aber deine Uromi würde sich doch so freuen …« Ich könnte meine Mutter dann anschreien, dass es mir egal ist, wenn sich meine Uromi nicht freut, und dass ich mich nicht freue, wenn ich etwas vorspielen muss. Ich hätte sie am liebsten angebrüllt, dass sie verdammt noch mal erst darüber nachdenken sollte, was ihre Kinder freut, bevor sie sich fragt, was ihre Mutter oder ihre Oma freut. Ich bin schließlich das Kind, das sie geboren hat, ohne dass es gefragt worden ist. Ich bin der Mensch, für den sie Verantwortung übernehmen wollte. Hätte sie das nicht gewollt, hätte sie mich nicht in diese Mistwelt schubsen sollen. Aber das sage ich nicht. Sie hört sowieso nicht zu. Ich muss weinen. Ich will nichts vorspielen. Ich will nicht allein da stehen und von irgendwelchen dummen Menschen angegafft werden. Von dummen Menschen, die nur darauf warten, dass ich einen Fehler mache. Sie wollen beurteilen, sie wollen urteilen, sie wollen mich bewerten und ich will mich nicht bewerten lassen. Ich weiß, dass ich einen Fehler machen werde, weil ich nicht spielen kann und weil ich es obendrein nicht will. Das sage ich meiner Mutter, aber sie legt mir eine Hand auf die Schulter und schaut mich mit einem Flehen in den Augen an, als hinge ihr Leben davon ab, dass ich für ihre Oma ein blödes Lied auf meiner blöden Geige spiele. Dass ich nahe am Weinen bin, interessiert sie nicht. Sie schlägt mir vor, dass ich mich doch in den Flur stellen könne, wenn es mir peinlich sei, vor der Familie zu spielen. »Ich will gar nicht spielen, ich kann das nicht!« Sie versteht das nicht. Sie versteht gar nichts. Ich gebe schließlich nach. Sie kann ewig vor einem stehen, bis man ihren Willen tut. Meine Mutter geht zu den Gästen, die meisten sind Familienmitglieder, Oma, Opa, Tante, Onkel, Großonkel … und natürlich auch meine Uroma. Meine Mutter sagt fröhlich, dass ich jetzt etwas auf der Geige vorspielen würde, dass mir das aber ein bisschen peinlich sei und ich mich daher in ein anderes Zimmer stellen würde.
Super. Jetzt wissen das auch alle.
Sie kommt wieder zu mir und sagt, dass ich anfangen könne. Ich hab meine Geige schon ausgepackt und beginne, das Lied zu spielen, das ich als Letztes gelernt habe. Ich verspiele mich nach wenigen Noten. Ich wusste das. Das macht es aber nicht besser. Ich fange wieder an zu weinen. Ich stehe in diesem dummen Flur, mit den dummen alten Teppichen, den dummen alten Möbeln und den dummen alten Wänden und versuche, auf meiner Geige zu spielen, obwohl ich weiß, dass ich es nicht kann. Ich spiele nicht, weil ich es will, sondern weil ich
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