Schnittstellen
gedacht, dass man dabei so viel Aggressionen rauslassen kann. Dieses heftige Verlangen, sich umzubringen, sich zu zerstückeln, sich zu bestrafen, sich selbst zu zeigen, wie sehr man sich hasst, wird durch ein paar kleine Schnitte immerhin erträglicher. Das ist erstaunlich. Und meine Mutter: Sie fragt, wieso ich das mache. Sie würde es niemals verstehen, dass ich mich dadurch für eine Weile nicht mehr so hässlich, überflüssig und schmutzig fühle. Wie soll sie es auch begreifen. Sie hasst sich selbst nicht. Wenn sie das tun würde, würde sie auch alles daransetzen, sich selbst zu zerstören.
Ich kann mich nicht töten, aber ich kann mich immerhin selbst verletzen. Wenn ich mir eingestehe, dass ich wertlos bin, dann kann ich die Stimmen in meinem Kopf besänftigen. »Bitte, da seht ihr es! Ich weiß, wie scheiße ich bin! Also haltet eure dummen Fressen!« Und dann sind sie ruhig, weil sie wissen, dass ich es selbst weiß.
Viele Menschen haben Essstörungen. In der siebten Klasse hielten Carina, Lena und ich ein Referat darüber. Wir fanden es alle drei unverständlich. Auch ich fand es damals unbegreiflich. Jetzt nicht mehr.
Es gibt auch viele Menschen, die sich ritzen. Damit konnte ich mehr anfangen, denn ich hatte bereits die Vorstellung, dass es mir Erleichterung verschaffen könnte. Ich muss meine Gefühle abreagieren. Und weil ich mich nicht traue aus dem Fenster zu springen und keine Waffe habe, um den Menschen draußen ihre Schädel wegzuschießen, habe ich es mit Rasierklingen versucht. Es fühlte sich gut an.
Dass meine Mutter das nicht versteht, ist mir gleichgültig. Aber dass sie mir vorwirft, ich verstümmle meinen Körper, finde ich dreist. Es ist mein Körper. Es ist ganz allein meine Sache, was ich mit meinem Körper mache. Und wenn nicht, dann soll sie die Welt ändern, damit ich mich nicht mehr ritzen muss. Mich wird sie nicht ändern können. Ich weiß sowieso nicht, was sie sich darauf einbildet, dass sie mich geboren hat. Meint sie, ich gehöre ihr? Das Einzige, was sie damit erreicht hat, ist, dass ein weiterer Mensch unzufrieden vor sich hinvegetiert. Und anstatt meine Unzufriedenheit zu sehen, macht sie mir Vorwürfe. Sie ist dumm. Erwachsene sind dumm. Die Menschheit ist dumm.
»Och, ihr wollt doch alle nur Aufmerksamkeit, ihr dummen kleinen Kinder. Ihr wollt doch nur Aufmerksamkeit.«
GENAU ! Ihr habt es erfasst! Wir wollen Aufmerksamkeit! Wir wollen, dass ihr seht, wie es UNS geht, und wir wollen, dass IHR etwas verändert, weil auf UNS niemand hört. Hallo? Ist doch logisch. Ich befürchte, Erwachsene können nicht weit denken.
»Ihr wollt doch nur Aufmerksamkeit.« Klingt nicht nach einem vollständigen Satz. Da müsste doch eine Begründung folgen oder nicht? So etwas wie: »Ihr wollt doch nur Aufmerksamkeit, weil …«
Ja, WEIL . Ich will nicht einfach NUR Aufmerksamkeit, ich will Aufmerksamkeit, WEIL ! WEIL diese Scheißgesellschaft mich abfuckt, weil ich mich selbst abfucke, und WEIL ich will, dass ALLE das wissen. WEIL ich will, dass ALLE mal anfangen, sich Gedanken darüber zu machen, wie dumm die Gesellschaft ist. Dass sie sich Gedanken darüber machen, wie unnötig es ist, dass eine Gesellschaft in dieser Form existiert, in denen es so vielen Menschen zum Kotzen geht. Und ich will, dass alle Menschen, denen es zum Kotzen geht, alle, die es nur verdrängen, sich endlich die Aufmerksamkeit holen, die ihnen zusteht. Nicht weil sie einfach NUR Aufmerksamkeit wollen. Sondern WEIL sie wollen, dass sich etwas ändert. Aber nein, Erwachsene können nicht weit denken. Daher werde ich in dieser von dummen Erwachsenen dominierten Welt für immer ein Kind bleiben, das nur Aufmerksamkeit will. Grauenhafte Einsicht.
Anja
Sie hat es wieder getan. Ich sehe die frischen Wunden.
»Du hast gesagt, du wirst es lassen.«
»Ich habe gesagt, ich versuche es.«
»Aber warum musste es denn wieder sein? Was ist los mit dir?«
»Warum, warum … wenn ich mich nicht schneiden darf, muss ich eben kotzen, was ist dir lieber? Ich muss mich bestrafen. Alle Menschen sollten sich bestrafen.«
»Die Menschen sind nicht alle schlecht. Es gibt genug Gute.«
»Und was machen die aus ihrem Gutsein? Nichts. Die Welt bleibt, wie sie ist. Die Menschheit wird sich bald selbst ausrotten und das ist auch gut so! Die Natur ist in Ordnung, und bald wird sie das Experiment Mensch glücklich hinter sich gelassen haben.«
Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll.
Anna, Jonas und seine Freundin Marlin
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