Schnittstellen
muss.
Man merkt eigentlich gar nicht, dass man sich ritzt. Zuerst ist da nur der blasse Streifen, nachdem man sich die Klinge über den Arm gezogen hat. Der Schnitt füllt sich mit Blut, das dann langsam zu Boden tropft.
Gestern habe ich die Rasierklinge mehrere Male über meinen Arm gezogen. Dann über meinen Oberschenkel. Das ging noch besser. Da ist so viel Fett, dass die Klinge praktisch wie von selbst im Fleisch verschwindet! Es ist angenehm, wenn das Blut kitzelnd über die Haut rinnt. Es tut auch gar nicht weh, nicht in dem Moment, in dem das Blut so schön fließt. Im Gegenteil, es fühlt sich gut an, und danach bin ich entspannter.
Ich habe dann meine Beine ausgestreckt und meine blutenden Wunden angeschaut. Das hast du verdient, ging es mir immer wieder durch den Kopf. Strafe muss sein.
Zurück im Zimmer habe ich mir meinen Pullover und meine Schlafanzughose übergezogen, damit das Bettzeug nicht blutig wird. Wie angenehm, danach im Bett zu liegen. Immer wenn ich mich nach dem Ritzen bewege, zieht es an den Wunden, weil das Blut an den offenen Stellen mit den Klamotten verklebt. Das Gefühl, wenn der Stoff an der Wunde reißt und sie aufgeht, mag ich. Es fühlt sich richtig an.
Heute trage ich Armstulpen, weil es für einen Pulli zu warm ist. Niemand schert sich drum. Niemand sieht das. Ich kann hier also kotzen und mich ritzen wie zu Hause, nur bekomme ich keinen Ärger. Das nenne ich doch mal eine sinnvolle Einrichtung.
Morgen, wenn meine Eltern kommen, ziehe ich irgendetwas Langärmliges an. Meine Eltern haben noch nie darauf bestanden, meine Arme zu sehen, wenn es keinen wirklichen Verdacht gab, warum ich mich hätte ritzen sollen. Und den gibt es auch jetzt nicht. Wirklich nicht. Es ist ja nicht mal wirklich schlimm hier. Nur ziemlich langweilig. Immer die gleichen öden Menschen. Ein Mädchen ist ganz nett, sie heißt Hanna, aber sie lebt mir zu sehr in ihrer Animewelt, am liebsten schaut sie sich irgendwelche Mangabildchen oder Animationsfilme an. Okay, ich lebe auch gern in meiner eigenen Welt. Aber die besteht nicht aus irgendwelchen gezeichneten Personen, sondern aus realen Menschen. Nur die Handlungen sind Fantasie. Alle sind dann so, wie ich sie gern hätte. Das ist doch viel spannender, als sich mit irgendwelchen fiktiven Gestalten zu beschäftigen. Die Realität so gestalten, wie man sie haben möchte, das macht Spaß. Ich denke oft darüber nach, wie die Welt sein sollte. Wie ich sein sollte und wie meine Eltern, Freunde und so weiter sein sollten. Auch in meinen Fantasien kommen manchmal Personen vor, die ich so noch nicht getroffen habe, aber die haben ganz sicher keine Glupschaugen wie diese Mangafiguren. Trotzdem ist Hanna sehr nett.
Der Kontakt zu den anderen ist mir nicht wichtig. Die kennen sich auch schon länger, die meisten sind bereits einige Wochen hier. Da stören die Neuzugänge nur. Zudem habe ich keine Lust auf Menschen, die sich selbst bemitleiden und weinerlich in der Ecke hocken. Das habe ich doch mit mir selbst zur Genüge. Ich wäre viel lieber mit starken Menschen zusammen, die mir zeigen, wo es langgeht, und nicht mit Mädchen, die die gleichen Probleme haben wie ich und mich nur noch mehr runterziehen. Wenn sie wenigstens andere Sorgen hätten, dann könnte man sich ja doch gegenseitig irgendwie helfen. Aber wir können uns keine Tipps geben.
Wie schön, dass Carina morgen mit meinen Eltern herkommt. Mit ihr kann ich gut reden und Witze machen, ich habe bei ihr das Gefühl, dass sie mir wirklich helfen will, und manchmal frage ich mich, wieso sie das tut, komme aber zu keinem Ergebnis. Ich nehme ihr Mitgefühl gern an. Mitleid mag ich nicht. Aber sie fühlt tatsächlich mit mir. Ich glaube, wenn Carina nicht wäre, dann wäre alles noch viel schlimmer.
Ich freu mich auf das Wochenende.
Anja
Als wir dieses Mal in Waldmünchen ankommen, ist es zwar so kalt wie vor drei Wochen, aber die Sonne scheint und taucht Ort und Klinik in ein freundliches Licht. Alles kommt mir gar nicht mehr so tot und trostlos vor. Beim Einbiegen auf den Parkplatz sehe ich Meike, die vor dem Haus auf uns zu warten scheint. In ihrem schwarzen Wintermantel und mit dem kinnlangen blonden Haar kommt sie mir gleichzeitig jung und erwachsen vor. Ich muss die Tränen unterdrücken, ich bin froh, sie zu sehen, so … unversehrt. Und ich bin froh, dass Carina zuerst auf Meike zurennt und die beiden sich lachend umarmen. So habe ich mich gefasst, als wir uns begrüßen. Und ich freue mich, dass
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