Schnittstellen
verzichtete er irgendwann auf die Kügelchen.
Ich weiß nicht, ob ich pädagogisch richtig handle. Ich agiere und kommuniziere auf meine Art, und ich merke, dass selbst schwierigste Kinder und Jugendliche etwas von mir annehmen. Die meisten sind sogar wild auf Kommunikation. Sie sind froh, dass sich jemand ihre Probleme anhört, in der Pause oder in den Orientierungsstunden, die einem als Klassenlehrer zur Verfügung stehen. Sie wollen genau das, von dem Meike die Nase voll hat: reden. Und sie scheinen zu spüren, dass ich jeden nehme, wie er ist. Das ist mir auch selbst wichtig. Als Schülerin fand ich es schrecklich, wenn ein Lehrer seine Lieblinge hatte oder, noch schlimmer, wenn er zeigte, dass er bestimmte Schüler oder Schülerinnen nicht leiden konnte. Solche Lehrer waren bei mir unten durch. Als Kind und Jugendlicher will man Gerechtigkeit und nicht, dass jemand aus unerfindlichen Gründen vorgezogen oder runtergemacht wird. Ich versuche Fehler, unter denen ich gelitten habe, nicht zu machen. Dafür mache ich andere. Ich bin nicht streng genug. Strenge liegt mir nicht, obwohl ich weiß, dass manche Schüler das brauchen. Mein Schulleiter beruhigt mich. »Strenge lernt man aus Selbsterhaltungstrieb«, meint er, »dass man junge Menschen mag, ist erst mal das Wichtigste.«
So liege ich auf dem Sofa und lasse mir den Vormittag durch den Kopf gehen und bin dankbar, dass ich jetzt nicht mit Meike streiten muss. Oder sie trösten oder sie motivieren. Aber zugleich denke ich, wie mag es ihr dort gehen, in der Kälte, mit dem täglichen Wiegen, das sie hasst, mit den anderen Patienten. Ich hoffe so sehr, dass sie zurechtkommt, dass es für sie gut ist, dort zu sein. Und ich freue mich auf die Oktoberferien, in denen ich alles in Ruhe ordnen kann und an deren Ende wir Meike besuchen werden, mit Carina, ihrer besten Freundin. Dann sind drei Wochen um, die Kontaktsperre ist vorbei und wir werden erfahren, ob Meike länger in Waldmünchen bleiben wird oder mit nach Hause kommt.
Meike
Keine Ahnung, ob es hier nun schön ist oder nicht. Die Gruppentherapie jedenfalls mag ich gar nicht. Mir geht es auf den Keks, von den Gewichtsprobleme irgendwelcher Mädchen zu hören, die ohnehin viel dünner sind als ich. Auch wenn das gemein ist, aber mich ärgert es, dass die nicht merken, dass sie viel zu mager sind. Es sieht sogar bei Models hässlich aus, wenn sie nur Haut und Knochen sind. Hübsch ist etwas anderes!
Ich kann aber dennoch nichts dafür, dass ich lieber dünner wäre. Ich bin nicht schlank und wäre eben gern schlank oder lieber dünn, aber nicht dürr. Das ist ein Unterschied, den vor allem meine Mutter nicht sieht.
Die Gruppentherapie finde ich im wahrsten Sinne des Wortes zum Kotzen, und die Bewegungstherapie ist nicht viel besser. Ich hasse es, mit anderen Menschen reden oder sogar in Körperkontakt treten zu müssen. Wir sollten heute zum Beispiel zu zweit nebeneinander hergehen und nachher sagen, was der andere beim Gehen empfindet. »Sie kommt mir zielstrebig vor«, sagt Hanna, das Mädchen, das neben mir geht, über mich. »Zielstrebig und entschlossen.« Ja, das passt. Seltsam, ich fühle mich immer kaputt und einsam, und auf andere mache ich einen arroganten Eindruck. Ein Mitschüler hat einmal gesagt, dass ich sogar eingebildet herüberkomme.
Ich glaube, ich gehe nur so aufrecht und schnell und bestimmt, weil ich weiß, wo ich hinwill. Weg. Ich will weg. Vielleicht hat es damit zu tun, dass ich mich so stark darauf konzentriere, die ganzen dummen Menschen nicht zu sehen. Mein Gang ist vielleicht so steif und gerade, weil ich nicht aus irgendeiner Rolle in diese widerliche Welt fallen möchte. Wie ein Pferd mit Scheuklappen. Wenn man schnurstracks denkt, muss man eben auch so laufen.
Hanna geht anders, eher ängstlich, scheu. Ich habe aber keine Lust, mich in sie hineinzufühlen und darüber nachzudenken, wie sie sich wohl selbst empfindet. Ich mag das nicht. Ich mag bei mir bleiben. Gedanklich und körperlich. Wenn ich Kontakt mit anderen Menschen haben muss, fühle ich mich schlecht. Als wir so nebeneinander hergehen, achte ich sehr genau darauf, wie ich atme.
Ich fühle mich wie bei den Bahnfahrten in Köln, wenn ich Musik über die Kopfhörer höre. Dann habe ich auch jedes Mal darauf geachtet, wie ich atme, weil ich Angst hatte, dass ich zu laut atme und andere Menschen das komisch finden könnten. Dadurch, dass ich so sehr darauf geachtet habe, wie ich atme, wurde ich unruhig und fing an,
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