Schnittstellen
soll denn das ganze Denken so schnell umgestülpt werden? Selbsthass und Selbstzweifel plötzlich in Zuversicht verwandelt?
Aber ich fühle mich nach wie vor erleichtert, dass Fachleute das Ruder übernommen haben. Wie diese Fachleute vorgehen, das weiß ich nicht. Ich bin gespannt, was Meike erzählen wird. Hin und wieder ein Telefongespräch gab nur Auskunft darüber, dass diese und jene Übung ziemlich grauenhaft war oder dass Meikes Therapeutin Urlaub hatte, was ich merkwürdig fand. Wieso teilt man einer neuen Patientin eine Therapeutin für Einzelgespräche zu, die noch im Urlaub ist? Gerade dem Einzelgespräch hatte Meike erwartungsvoll entgegengesehen, und es war typisch für sie, es dennoch so gelassen zu nehmen (oder nur so zu tun?). Immer schon war sie gut darin gewesen, Enttäuschungen wegzustecken. Zumindest nach außen hin.
Meike
Übermorgen bekomme ich endlich Besuch. Endlich mal etwas anderes. Es ist öde hier, und die Leute sind dumm. Die Ärzte sind dumm. Klar, ich bin freiwillig hier und sollte wahrscheinlich meinen Teil dazu beitragen, »gesund« zu werden. Aber ich finde, dass auch die ganzen Therapeuten ihren Teil dazu beitragen sollten. Das machen sie nicht.
Es gibt geregelte Essenszeiten, morgens, mittags, abends. Wir müssen mindestens eine Stunde am Tisch sitzen bleiben, selbst wenn wir nichts essen. Total beschissen. Ich hasse es, an einem Tisch mit Essen zu sitzen, wenn ich nichts essen will. Seit Lenas Geburtstag ist meine Disziplin dahin und ich esse, wenn es Essen gibt. Hier gibt es kein Entkommen. Also esse ich. Und kotze danach, wenn diese leidige Stunde vorüber ist, einfach alles wieder aus. Wunderbar! Das kann ich auch zu Hause haben. Dafür muss ich nicht in einer Klinik zusätzlich langweilige Stunden verbringen. Abgesehen davon ändern die drei Mahlzeiten am Tag nichts an irgendwelchen Essstörungen. Wir können ungehindert einkaufen gehen. In der Nähe ist ein Supermarkt. Wer will, kann sich also Vorräte kaufen. Es gibt daher keinen Zwang, sich an die drei Mahlzeiten zu halten. Für mich wäre das besser. Diese Pseudokontrolle nervt total.
Ich gehe oft in den Supermarkt, meist aus Langeweile. Sonst passiert nichts, aber auch gar nichts! Ich war einmal im Ortszentrum von Waldmünchen und hatte nach fünf Minuten alles gesehen, was es zu sehen gibt. Immerhin war ich in einem Schreibwarenladen. Ich mag Schreibwarenläden, dort kann ich mich auch einige Zeit aufhalten, ich mag Ordner und Stifte und Radiergummis und vor allem Hefte und Papier. Aber das ist keine Ganztagsbeschäftigung. Ich gehe also oft in den Supermarkt und kaufe mir Essen. Vor allem allen möglichen Süßkram. Und so trage ich das ganze Geld zur Toilette und spüle es als Erbrochenes hinunter. Und wen interessiert das? Niemanden! Ich dachte, ich wäre in der Klinik, damit man auf mich achtet und mir dann beibringt, wie ich am besten auf mich selbst achte. Wenn ich meinen ganzen Tagesablauf ohne Ritz- oder Brechaktionen regeln könnte, wäre ich nicht hier. Ich brauche Hilfe. Darum bin ich hierhergekommen. Und wie sieht diese Hilfe aus? _________.
Na ja, es stört mich nicht weiter. Ich kann essen und kotzen und muss keine Eltern, die darüber in Geschrei ausbrechen, ertragen. Ich muss nicht streiten. Das ist ein Stück Freiheit!
Aber gestern ging es mir wegen der Fresserei richtig dreckig. Man kann nämlich nur sehr schwer so viel herauswürgen, wie man gegessen hat. Manchmal hat man Glück und alles kommt in einem Schwall heraus, aber meist muss man sich den Finger zig Mal in den Hals stecken, und wenn sich das halbverdaute Essen als dicke Breiwurst durch die Speiseröhre windet, meint man zu ersticken und muss dennoch weiter ordentlich pressen und hat dann von der ganzen Anstrengung rote Flecken im Gesicht. Gestern habe ich es nicht geschafft, alles herauszukotzen, ich habe es irgendwann aufgegeben und mich danach nur noch fett und widerlich gefühlt. Da hilft auch das Duschen nicht. Mein Bauch bleibt mein Bauch. Gestern habe ich es aber nicht mehr ausgehalten, es gab nur noch eine Lösung: mich zu ritzen. Das tut so gut! Es ist einfach wunderbar. Ich habe ja meinen Rasierer dabei. Die Klingen rausnehmen ist einfach, sofern man eine Schere hat. Und die habe ich mitgenommen, weil ich auch gern bastle. Ich habe mich ins Bad auf den Boden gesetzt, an die Wand angelehnt und die Knie angezogen. Drei Klingen lagen in meiner Hand und ich habe die schärfste ausgewählt. Damit ich nicht so viel Druck ausüben
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