Schnittstellen
Meike meine feste Umarmung erwidert. Wir drücken und küssen uns. Auch Karl ist sichtlich gerührt. Er fährt Meike durchs Haar, und mir fällt auf, dass es stufig geschnitten ist.
»Warst du beim Friseur?«, frage ich.
Meike schüttelt den Kopf. »Hab ich selbst gemacht. Blöd, oder?«
»Aber nein, sieht richtig gut aus!«
Carina und Karl bestätigen meine ehrliche Meinung. Wir vereinbaren, dass die Mädchen erst mal eine Stunde für sich haben und Karl und ich unsere Sachen in den Gasthof bringen, bei dem wir die Übernachtung gebucht haben. Dann wollen wir zusammen in den nächsten größeren Ort Eis essen. Meike hat von einem super Eiscafé gehört, das auch im Winter geöffnet hat. Und dann vielleicht noch ins Kino, denn viel herum kommt Meike allein natürlich nicht. Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln ist es in dieser Gegend schlecht bestellt und es gibt auch nur begrenzt Ausgang. Karl und ich fühlen uns wie befreit. Optimistisch suchen wir das Gasthaus auf, das allerdings ein wenig duster anmutet, der Schankraum mit merkwürdiger Ausstattung und diversen Hinterräumen, die Gästezimmer allerdings ganz modern in einem angebauten Neubau. Um diese Jahreszeit ist kaum etwas los. Alles groß, leer und dunkel. Der Wirt ist freundlich, das Zimmer in Ordnung. Nachdem wir das wenige Gepäck verstaut und uns etwas frisch gemacht haben, sind wir schon wieder auf dem Weg zur Klinik, beschließen dann aber, noch eine kleine Runde an der frischen Luft zu drehen, damit wir den Mädchen ihre Stunde auch lassen. Nur wenige Meter von dem Gasthaus entfernt, erregt das Foto einer jungen, blonden Frau unsere Aufmerksamkeit. Als wir näher kommen, sehen wir, dass es sich um den Steckbrief einer Vermissten handelt. Seit einem Monat ist die Dreiundzwanzigjährige, die aus der Gegend stammt, spurlos verschwunden. »Das ist ja entsetzlich«, bringe ich nur heraus, und Karl nickt. Die Anzeige drückt auf unsere Stimmung. Wir atmen tief die kühle Luft ein und laufen schneller als geplant hinüber zur Klinik. Wir gehen gleich hinauf zu Meikes Zimmer, aus der das muntere Geplauder der Mädchen dringt. Wie früher zu Hause, denke ich. Als wir anklopfen, wird es still.
»Herein.« Karl und ich treten ein und die Mädchen lachen, sie freuen sich auf unseren Ausflug, und ich merke, wie das unangenehme Gefühl von eben etwas nachlässt.
Wir sind hier in Bayern, an der tschechischen Grenze, aber mir erscheint es beinahe wie das Ende der Welt. Die Verbindungsstraße zu dem »größeren« Ort führt durch dichten Wald. Es begegnet uns kaum ein Auto. Auch in dem Ort selbst ist auf den Straßen nicht mehr los als in dem winzigen Kurort. In dem berühmt berüchtigten Eissalon ist immerhin noch ein weiterer Tisch besetzt. Aber die paar Menschen, die man hier trifft, kommen mir vor wie Komparsen, die die Gegend beleben sollen. Die Eisbecher schmecken zu meiner Überraschung tatsächlich fantastisch. Und glücklicherweise ist auch das Kino in Betrieb. Der Abend ist gerettet. Die Mädchen wollen unbedingt in Bad Boys II . Aus irgendeinem Grund assoziiere ich Big Shot . Einen spannend, turbulenten und anrührenden Film um zwei Jungen, die einige Abenteuer in der Welt krimineller Erwachsener zu bestehen haben. Ich freue mich, dass es zu dieser liebenswerten Geschichte einen zweiten Teil gibt, staune aber zugleich, dass zwei fünfzehnjährige Teenager sich einen solchen, auch für jüngere Kinder geeigneten Film aussuchen. Als ich schließlich im Kino sitze, bemerke ich meinen Irrtum schnell. Statt zweier Jungen sind Will Smith und Martin Lawrence die Hauptdarsteller, und mir bleibt der Mund offen stehen, wie viele Leichen in einem Film vorkommen können und was man mit Körpern alles anstellen kann. Na ja, die Mädchen amüsieren sich köstlich, auch Karl scheint nichts dabei zu finden. Ich kann eigentlich nur lachen, weil ich die ganze Story grotesk finde. Wie damals, als ich in der Schule einmal die mittelalterliche Bestrafung des Räderns in allen grausigen Einzelheiten vorlesen musste und es so grausig fand, dass ich einen Lachanfall bekam. Dieser Film hat eine ähnliche Wirkung auf mich.
Als wir das Kino verlassen, merke ich, dass Meike mir gegenüber einen schrofferen Ton anschlägt, und ich muss sofort an früher denken. Sehr häufig oder beinahe immer, wenn wir mit unseren Kindern etwas Besonderes unternommen hatten und der Tag zu aller Zufriedenheit verlaufen war, fing irgendjemand einen Streit an, so als wäre eine angenehme
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