Schnittstellen
Gespräch mit Meike und der zuständigen Ärztin, Frau Doktor Hesen, verabredet. Als wir das Gepäck im Auto verstaut haben, sehen wir Meike und Carina auf dem Steg, der über einen kleinen Bach gleich vor der Klinik führt. Als sie uns erkennen, kommen sie uns entgegen. Beide sehen fröhlich aus und haben eine frische Gesichtsfarbe. »Wir waren schon spazieren«, berichtet Meike. Sie kommt auf mich zu. »Das mit gestern tut mir leid, Mama.«
Was soll ich dazu sagen? Natürlich bin ich froh, dass der Anfall vorüber ist. Wie oft sind Streitereien, die so ihren Anfang nahmen, eskaliert? Wie oft habe ich mir diesen Ton und diese Ausdrucksweise verbeten? Wie oft habe ich gedacht, dass Meike eine Energie hat, die sie in unserem vorgeschriebenen System nicht loswerden kann? Und jetzt, nach drei Wochen Trennung, kam es wie aus einem Hinterhalt. Ich weiß nicht, was ich bei meiner Tochter auslöse. »Es ist schon gut«, sage ich, »ich weiß nur nicht, was das immer soll.«
»Ich weiß es ja selbst nicht«, sagt Meike. Wir nehmen uns in den Arm. Es herrscht Frieden, aber ich weiß, dass es ein trügerischer Frieden ist, weil ja nichts geklärt ist. Meike wendet sich ihrer Freundin zu. »Möchtest du in mein Zimmer gehen, wenn wir das Gespräch haben?« Carina nickt. »Mach dir um mich keinen Kopf.«
Während Carina also in Meikes Zimmer geht, suchen Karl und ich mit Meike das Gesprächszimmer auf.
Frau Doktor Hesen begrüßt uns freundlich, aber sie wirkt zerstreut, so als hätte sie wenig Zeit und Wichtigeres im Kopf. »Ja, was soll ich sagen. Meike hat sich gut eingelebt, soweit ich das beurteilen kann.« Sie wirft Meike einen fragenden Blick zu und Meike nickt. »Du hast dich entschlossen, die Verlängerung des Aufenthalts wahrzunehmen, die dir freisteht?« Wieder nickt Meike.
Mir kommt es nicht vor, als bestände da irgendein Band zwischen Meike und der Ärztin, das ein tieferes Verständnis verrät. Meike ist freundlich, aber das ist sie Fremden gegenüber immer. Sie tobt sich nur innerhalb der Familie aus. »Ja, dann … ich hoffe, du machst weiterhin Fortschritte. Ich freue mich, dass du bei uns zurechtkommst.« Frau Doktor Hesen steht auf. »Frau Abens, Herr Abens, dann darf ich mich verabschieden.« Verblüfft reiche ich der Ärztin die Hand. Nichtssagender hätte ein Gespräch nicht verlaufen können.
»Was war das denn jetzt?«, frage ich draußen. »Dafür hätten wir aber nun wirklich keinen Gesprächstermin verabreden müssen!«
»Was soll sie denn groß sagen?«, nimmt Meike die Ärztin in Schutz. »Es ist doch alles in Ordnung.«
Es ist alles in Ordnung. Ja, vielleicht erwarte ich immer zu viel, vielleicht ist das mein Problem mit der Welt. Ich will alles und ich will es jetzt. Nur, dass es mir nicht auf die Befriedigung materieller Bedürfnisse ankommt, sondern auf die Integrität und den Einsatz meiner Mitmenschen. Natürlich sehe ich die Grenzen … Marvin habe ich nicht helfen können. Kann man anderen überhaupt helfen, wenn sie selbst nicht bereit sind, Hilfe anzunehmen? Ist mein Helfersyndrom nicht vielleicht sogar Ursache für Meikes Probleme? Die Gedanken jagen mir nur so durch meinen Kopf, aber ich muss sie wegsperren, unsere Zeit mit Meike neigt sich schon dem Ende zu.
Wir haben ausgemacht, dass wir gegen Mittag wieder nach Hause fahren. Meike muss sich für die Mahlzeiten mit einigem Aufwand abmelden, deshalb will sie in ihrer Gruppe am Mittagessen teilnehmen. Da wir eine lange Fahrt vor uns haben, sind wir mit ihrer Entscheidung einverstanden. Durch eine Scheibe können wir den Essensraum übersehen. An einem langen Tisch sitzen junge Menschen unterschiedlichsten Alters. »Das Mädchen mit dem blonden Haar da, das ist Hanna. Die ist in Wirklichkeit ganz nett, mit der komme ich gut aus«, erklärt Meike mit abwesendem Blick. Sie scheint schon wieder ganz in die Klinikwelt eingetaucht. »Die Frau da, ganz am Ende vom Tisch, hat drei Kinder und immer noch solche Probleme. Ich glaube, die kommt gern hierher … die kann gar nicht ohne Klinik leben.« Meike schaut uns an. »Das finde ich blöd, so möchte ich nicht enden.« Sie geht zum Flur zurück. »Ich bring euch noch zum Auto.« Wir folgen ihr, wir tun munter. Auf dem Parkplatz verabschieden wir uns. Carina und ich mögen Meike nicht wirklich loslassen. »Jetzt muss ich aber rein«, sagt Meike schließlich. Wir setzen uns ins Auto, Karl und Carina haben die Seitenfenster geöffnet und winken. Meike winkt ebenfalls, bis wir sie nicht
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