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Schock

Titel: Schock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hunter Evan
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Schwert über ihnen, steh nackend da, nur mit dem Mantel der Liebe bedeckt, und sie lassen von dir nur abgenagte Knochen übrig – nie wirst du wissen, wer zum Teufel du bist oder warst.
    Das Mädchen drehte den Wasserhahn zu.
    Es war sehr still in der Wohnung.
    Er war allein und überlegte sich, wer er war und warum ihn wohl niemand auf der Vermißtenstelle als vermisst gemeldet hatte. Eine Vermißtenstelle gab es irgendwo in der Stadt, das wußte er. Und er wußte auch: wenn ein Ehemann zu spät zum Essen kam, gab es für seine Frau nichts Eiligeres, als ihn dort zu melden; und dann schickte man zwei Detektive aus, die nach zahnärztlichen Unterlagen forschten. In der Frühe hatte er die Zeitung gelesen; der einzige Vermißte war Edward Vossler, ausgebrochen aus einer Irrenanstalt. Daß er nicht Edward Vossler war, wußte er mit Sicherheit; wie kam es also, daß niemand ihn als vermisst gemeldet hatte? Und wenn niemand sich die Mühe gemacht hatte, ihn zu melden – wurde er dann überhaupt vermisst? Oder stand er einfach nur niemandem nahe genug, der ihn hätte vermissen können?
    »Hast du ein Radio?« rief er zum Badezimmer hinüber.
    Hinter der geschlossenen Tür antwortete das Mädchen: »Ja. Auf dem Bücherregal. Links vom Bett.«
    Er fand das Radio und schaltete es ein. Ein Chor kleiner Mädchen sang ein Lied, in dem es hieß: »Ich liebe ihn, ich liebe ihn, ich liebe ihn – wohin er geht, da folg ich ihm, da folg ich ihm, da folg ich ihm …«
    Und weshalb bist du mir dann nicht gefolgt, dachte er. Hier bin ich! Warum bist du mir nicht gefolgt?
    »Das Lied mag ich«, sagte das Mädchen aus dem Badezimmer.
    »Ich wollte die Nachrichten hören.«
    »Für Nachrichten ist es noch zu früh.«
    »Um elf sollten sie kommen«, erwiderte er.
    »Komm her«, sagte das Mädchen. »Ich möchte dich küssen, bevor ich meinen Lippenstift benutze.«
    Doch er wollte nicht zu ihr gehen; er hatte plötzlich das Gefühl, das Ganze wäre ihre Schuld. Sie hätte vorsichtiger sein müssen. Es war nicht fair von ihr, riesig zu werden wie ein Berg, aus dem das Leben schrie, ein bebender Vulkan kurz vor dem Ausbruch; es war nicht fair von ihr. Es drängte ihn, diese Wohnung zu verlassen, die ihn einengte, fort von dieser fremden Frau, die mit Grace nichts zu tun hatte, jedenfalls nicht mit der Grace, die er kannte; eher ähnelte sie einem seltsam deformierten Wesen, das sich schwerfällig bewegte und ständig über Rückenschmerzen klagte. Die kleinen Mädchen im Radio röhrten: »Ich liebe ihn, ich liebe ihn, ich liebe ihn« in nicht enden wollender Kakophonie; wenn sie ihn wirklich liebte, liebte, liebte, wie konnte sie dann dies geschehen lassen? Er erinnerte sich jener Nächte in seines Vaters Wagen, des verstohlenen Lachens über ihren Bruder Dan-Duke; an alles das erinnerte er sich mit schmerzlicher Sehnsucht, die ihn wünschen ließ, daß sie ihn wirklich liebte – daß sie ihm nahe genug stände, um die Vermißtenstelle anzurufen. Und plötzlich wußte er, daß das nicht möglich war. Die Stimmen der singenden Mädchen wichen einem pfeifenden Sendesignal, ein Ansager kündigte die Nachrichten an. Er setzte sich näher zum Radio.
    In New York City, in der ganzen Welt passieren täglich widrige Vorfälle; er lauschte den Problemen der Menschheit und wartete darauf, etwas über die besonderen Probleme eines bestimmten Menschen zu erfahren, der zufällig er selber war. Doch das Radio verriet ihm nichts, und als der Nachrichtensprecher geendet hatte, kam eine Werbesendung, in der ein widerlich verzogenes Balg seine Mutter aufforderte, nur noch Parks Würste auf den Tisch zu bringen. Er ging zum Radio und stellte es ab. Der Raum war still bis auf das Seufzen des Windes an den Fensterscheiben.
    Er hörte den Wind; und er beschloß, sie zu verlassen.
    Ja, dachte er.
    Ja.
    Geh jetzt. Geh, bevor es zu spät ist.
    Erlege den Tiger.
    Er stand am Fenster und schaute auf die Straße hinunter. Ja, dachte er. Du verläßt Grace jetzt, und eines Tages wird sie dich verlassen.
    Der Gedanke kam ihm ganz unversehens in den Sinn; er schob ihn sofort beiseite, weil er so völlig unlogisch war. Wie sollte sie ihn eines Tages verlassen können, wenn er sie jetzt verließ? Dann wäre er doch einfach nicht mehr da; man kann niemanden verlassen, der nicht da ist. Und doch bewirkte gerade der völlig Mangel an Logik, daß der Gedanke so unabweisbar logisch schien. Ja, es ist wahr, sagte er sich. Verlasse ich sie jetzt, dick, unförmig, ein Kind

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