Schock
Telefon hinüber. Es schien, als wollte sie zu dem Apparat hinübergehen.
»Lass das«, sagte er. »Wir brauchen niemanden.«
»Was?«
»Das Telefon. Denk nicht an andere Leute; der Teufel soll sie holen. Wir schaffen es allein.«
»Ich dachte …«
»Was dachtest du? Daß ich dich wirklich hätte verlassen können? Einfach aus deinem Leben weggehen! Ach, Grace, das ist dein Spiel, nicht meins. Was tätest du dann? Wenn ich ginge? Du weintest, allein, um den Jungen und das Mädchen, die sich in einem Park trafen und miteinander aufzuwachsen versuchten – ohne daran zu denken, daß Tiger auch dem Wachsen ein Ende machen können. Das können sie, Grace, das können sie; nur nicht bei uns! Was würdest du tun – würdest du dir die Tränen abwischen und deine Tabellen befragen und feststellen, daß die Zwillinge im Haus Merkurs stehen, daß du im zweiten Viertel geboren bist, elf bis zwanzig Grad, mit der Sonne im Aszendenten? Und würdest du dann alles vergessen? Dir die Tränen abwischen und alles vergessen? Wie könnte ich dich verlassen, Grace? Und wie könnte ich dich je vergessen?«
Sie antwortete nicht. Sie nagte an der Lippe und musterte ihn bestürzt.
»Ich gehe jetzt zu den Tigern«, sagte er. »Ich habe Durst nach frischem Blut.«
Er sah, daß es ihr schwer fiel, die Tränen zurückzuhalten. Sie rang die Hände, biss sich in die Lippen, die Tränen standen in ihren Augen, bereit, überzufließen.
»Nein«, sagte er, »nicht weinen.«
»Du machst mir Angst. Ich mache mir Sorgen um dich.«
»Mach dir keine Sorgen um mich«, sagte er. »Mach dir Sorgen um die da draußen. An denen ist es jetzt, sich Sorgen zu machen.« Er trat mit einem schnellen Schritt zum Fenster und riß es auf. »Hört zu«, schrie er zu den erleuchteten Fenstern der anderen Straßenseite hinüber. »Hört zu, ihr Dreckvolk!«
»Liebster, bitte …«
»Reißt eure Fensteraugen auf und seht mich an! Seht ihr mich? Das bin ich, der hier steht! Ich bekomme alles, was ich brauche und was ich haben will; ich hole es mir mit bloßen Händen. Was haltet ihr davon? Los, da drüben, macht das Badezimmerlicht aus – was interessiert es mich? Ihr könnt uns nicht aufhalten, hört ihr?« Er trat vom Fenster zurück und sagte sehr leise: »Sie können uns nicht aufhalten, Grace.« Dann war er bei ihr sank vor ihr auf die Knie, schlug den roten Bademantel auseinander und legte seinen Kopf an ihren Bauch. »Ich liebe dich, Grace«, sagte er. »Ich liebe das, was in dir ist.« Er hielt inne. »Wir werden lernen. Wir werden es dem Pack schon zeigen.«
Sie seufzte tief und strich sanft über sein Gesicht. Er blieb bei ihr, auf den Knien, die Wange gegen ihren Bauch gepresst – lange Zeit, wie es schien. Dann stand er auf, stand mit erhobenem Kopf und gereckten Schultern vor ihr. »Ich gehe jetzt hinunter und hole Whisky«, sagte er. »Für unsere Party. Wir werden feiern.«
»Vielleicht sollte ich gehen. Vielleicht …«
»Nein, du mußt dich noch anziehen.« Er lächelte. »Mach dir keine Sorgen um mich, Grace. Da draußen gibt es nichts, das mir etwas anhaben könnte.«
»Ich möchte nicht, daß dir etwas passiert«, sagte sie.
»Mir passiert nichts.«
»Oder uns. Ich möchte nicht, daß uns etwas passiert.« Sie hielt inne, sah ihn lange an und fügte dann vorsichtig hinzu: »Könntest du nicht …« Sie biss sich in die Lippen. »Wir könnten Hilfe bekommen, weißt du. Soll ich nicht lieber …«
»Wir brauchen keine Hilfe«, sagte er.
»Es ist nur – ich möchte dich nicht verlieren.«
Er lächelte, ging zu ihr und nahm sie in die Arme. »Ach, wirklich?« spottete er. »Wie kommt's?«
»Ich liebe dich«, sagte sie.
»Ach, wirklich? Und wie steht es dann mit Geld für den Schnaps?«
Sie zögerte und beobachtete sein Gesicht. »Du kommst gleich zurück, ja?«
»Ich fliege«, sagte er.
Sie trat zurück und öffnete ihre Handtasche. »Der Spirituosenladen ist zwei Straßenecken stadtaufwärts. Nach einem Lebensmittelgeschäft wirst du suchen müssen; ich weiß nicht, ob um diese Zeit noch eins geöffnet …«
»Ich werde schon eins finden.«
Sie gab ihm eine Zwanzigdollarnote. »Bitte, beeil dich«, sagte sie. »Ich mache mir Sorgen.«
»Zieh dein Kleid an«, sagte er, küßte sie leicht auf die Stirn und verließ die Wohnung.
Die Straßen draußen waren vom Regen reingewaschen; alles glitzerte in frischer Nässe. Er atmete die Luft tief ein und ging die Avenue hinauf bis zu dem Spirituosenladen. Er gab sechs
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