Schock
lange – seit fünf, sechs Jahren.«
Seine erste Reaktion war jubelnde Freude; der Alte war tot, gut! Doch gleich darauf befiel ihn eine Art Schuldbewusstsein, als wäre er irgendwie für Di Palermos Tod verantwortlich, weil er ihn so oft, so inbrünstig herbeigesehnt hatte. Kein Zweifel – Freude wie Schuldbewusstsein mußten deutlich in seinem Gesicht zu lesen sein. Er räusperte sich.
»Und nun sind Sie der Geschäftsinhaber?« fragte er.
»Ja. Ich habe der Witwe den Laden abgekauft.«
»Ah, so ist das.«
»Ja.« Der Inhaber zögerte. »Aber kann ich noch etwas für Sie tun?«
»Ich glaube nicht. Ich wollte Mr. Di Palermo sprechen, aber das ist nun wohl unmöglich.«
»Ja, das ist unmöglich«, stimmte der Inhaber zu.
»Seine Unterlagen haben Sie sicher nicht mehr?«
»Seine was?«
»Seine Unterlagen. Sozialversicherungsbelege oder dergleichen. Sie haben sie nicht irgendwo abgelegt? Die Namen der Leute, die hier gearbeitet haben? Irgend etwas in dieser Art?«
»Sie meinen, aus der Zeit vor zwanzig Jahren?«
»Nun, ja«, sagte Buddwing.
»Nein, da habe ich keine Unterlagen mehr«, sagte der Inhaber geduldig.
»Aha. Ja, dann …« Buddwing zuckte die Achseln. »Das wäre es dann wohl.« Er lächelte und sah sich um. »Hier hat sich nicht viel verändert.« Er hielt inne. »Wieviel zahlen Sie Ihrem Botenjungen?«
»Wie?« fragte der Inhaber.
»Ihrem Boten.«
»Nun, ich – aber ich glaube, das ist nicht Ihre Sache.«
»Natürlich nicht. Besten Dank«, sagte Buddwing heiter, winkte dem Mann zu und ging hinaus. Der Siebzehnjährige fegte noch immer den Gehsteig. Buddwing sah ihm eine Weile zu, erinnerte sich, wie er selber in der gleichen weißen Schürze den gleichen verdammten Gehsteig gefegt hatte, und trat dann zu dem Jungen.
»Hi«, sagte er.
Überrascht schaute der Junge hoch. »Hi«, erwiderte er zögernd.
»Sind Sie der Bote hier?«
»Warum?« fragte der Junge.
»Ich habe hier auch einmal Waren ausgetragen«, sagte Buddwing lächelnd. »Als ich so ungefähr in Ihrem Alter war.«
»Ach?« sagte der Junge.
»Ja.« Buddwing lächelte. »Ich bekam damals zweiundzwanzig Dollar die Woche.« Er hielt inne. »Wieviel bekommen Sie?«
Der Junge musterte ihn immer noch argwöhnisch. »Ich zahle meine Steuern«, sagte er schließlich. »Alles, was ich zahlen muß.«
»Nein, nein«, sagte Buddwing. »Ich glaube Ihnen schon, daß Sie Ihre Steuern zahlen. Warum sollten Sie Ihre Steuern nicht zahlen?«
»Nun, es gibt eine Menge Leute, die gehen irgendwohin zur Aushilfe und glauben, daß ihnen keiner draufkommt«, sagte der Junge.
»Sie denken vielleicht, ich bin von der Steuerfahndung?« fragte Buddwing belustigt.
»Ich kenne Sie nicht.«
»Ich auch nicht«, sagte Buddwing heiter. »Und wieviel bekommen Sie nun in der Woche?«
»Übrigens sind da Abzüge. Ich meine, der Boss zieht alles ab, bevor ich meinen Lohn bekomme.«
»Natürlich«, sagte Buddwing. »Das ist wohl auch die richtigste Art.«
»Ja«, sagte der Junge überzeugt.
»Und wieviel bekommen Sie nun?«
»Brutto, meinen Sie?«
»Ja, brutto.«
»Warum wollen Sie das wissen?«
»Weil ich glaube, daß der Mann, für den ich gearbeitet habe, mich hereingelegt hat. Das Geschäft gehörte damals noch einem anderen. Zweiundzwanzig Dollar in der Woche ist schließlich kein angemessener Lohn. Was halten Sie davon?«
»Nun, der Dollar ist heutzutage weniger wert als damals, nicht wahr?«
»Das ist richtig. Aber ich glaube immer noch, daß zweiundzwanzig Dollar zu wenig waren. Schließlich hat man eine Menge zu tun.«
»Ich bekomme fünfzig«, sagte der Junge. »Brutto.«
»Das läßt sich hören«, sagte Buddwing. »Fünfzig Dollar brutto.«
»Aber im Grunde ist es doch dasselbe – damals war ein Dollar doch noch fast das Doppelte wert, nicht wahr? Ich meine, Sie sind jetzt vielleicht vierzig, und wenn Sie hier gearbeitet haben, als Sie in meinem Alter waren …« Der Junge rechnete im Kopf. »Teufel, das war ja noch vor dem Krieg!« sagte er verblüfft.
»Ja«, antwortete Buddwing. Vierzig, dachte er. Er sagt, ich wäre jetzt vielleicht vierzig. Der Mann im Spiegel hatte nicht so alt ausgesehen. »Ja, schönen Dank«, sagte er. »Nett, daß Sie es mir gesagt haben.«
»Übrigens – zugegeben …« sagte der Junge.
»Ja?«
»Zweiundzwanzig klingt verdammt dünn.«
»Ja, das dachte ich auch. Aber …« Er zuckte die Achseln.
»Danke, das war's.«
Erfüllt von gerechtem Zorn, der ihm ausgesprochen wohltat,
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