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Schock

Titel: Schock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hunter Evan
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entfernte er sich von dem Laden und von dem Jungen. Die Erkenntnis, daß er damals tatsächlich betrogen worden war, schien ihn zu befriedigen; warum war er nicht schon vor Jahren zurückgekommen, um Di Palermo auf das genaue Ausmaß seines Raubes festzunageln? Seine eigenen kleinen Diebstähle – all die getrunkene Limonade und die mitgenommenen Zigaretten – schienen nun gerechtfertigt. Es war so einfach: für das, was ihm an Geld vorenthalten wurde, hatte er sich in Waren entschädigt. Er war froh, daß Di Palermo tot war; froh, denn der Alte war ein übler Kerl gewesen; gleichzeitig froh, weil Di Palermo ihm nun nicht mehr sagen konnte, wer …
    Er blieb mitten auf dem Gehsteig stehen.
    Wie dem auch sei, dachte er, es wird allmählich Zeit, daß ich herausfinde, wer ich bin.
    Er versuchte sich einzureden, daß die Erleichterung, die er verspürte, einzig und allein auf die Abwesenheit Di Palermos zurückzuführen war. Zugegeben – er hatte sich vor dem Alten schon immer ein wenig gefürchtet. Damit, daß Di Palermo nun tot und nicht mehr da war, ihn also unter keinen Umständen identifizieren konnte, hatte die Erleichterung nicht das geringste zu tun. Außerdem, überlegte er sich – würde er mich erkennen, selbst wenn er noch lebte? Er kannte einen knochigen Siebzehnjährigen, der jeden Morgen mit schlafverquollenen Augen zur Arbeit kam und den Gehsteig mit jenem Besen bearbeitete, bis es Zeit war, Waren auszutragen, Apartment 4 A, 2117 Riverside Drive; ein Schauer durchfuhr ihn.
    Ich kenne diese Adresse nicht, dachte er.
    Nur gut, daß du tot bist, dachte er.
    Nur gut, daß ich deine lausigen Eier …
    Der Junge mit den Rollschuhen fegte mit höchster Geschwindigkeit über den Gehsteig. Buddwing hörte das vertraute Knirschen abgenutzter Räder auf dem Pflaster und schaute auf, als der Junge herankam. Er versuchte auszuweichen, doch im gleichen Moment wich auch der Junge aus; beide fanden sich in einer seltsam ungeschickten Umarmung, jeder versuchte, den anderen zu halten – der Versuch mißlang, beide fielen zu Boden, ein Durcheinander von Armen, Beinen und fliegenden Rollschuhen. Ein kurzes Schweigen folgte, dann setzte sich Buddwing auf und sah den Jungen an. »Alles in Ordnung?« fragte er.
    »Scheint so«, sagte der Junge. Er war ungefähr neun Jahre alt, blond, mit blauen Augen. Er trug kurze Hosen und einen quergestreiften Pullover. Ein Rollschuh hatte sich von seinem Fuß gelöst und hing nur noch am Riemen. Ob er Schrammen oder Kratzer abbekommen hatte – seine Knie waren schorfig, verschrammt und blaufleckig von ähnlichen Zwischenfällen –, schien ihn nicht zu kümmern; statt dessen musterte er den baumelnden Rollschuh und sagte: »Mist! Wieder aufgegangen.«
    »Dein Rollschuh?« fragte Buddwing.
    »Ja.« Der Junge stand auf, einen Rollschuh noch am Fuß, und rollte zum Kantstein. Dort setzte er sich, schnallte den baumelnden Rollschuh ab und suchte in der Tasche nach dem Rollschuhschlüssel. Buddwing trat an den Kantstein und setzte sich neben ihn.
    »Du weißt, wie man das macht?« fragte er.
    »Klar«, sagte der Junge. »Es ist nur – die Schraube klemmt.«
    »Soll ich dir helfen?«
    »Das kann ich allein«, sagte der Junge. Er schob die beiden Teile des Rollschuhs wieder auf die richtige Größe zusammen und steckte den Schlüssel auf die Schraube an der Unterseite. »Das Ding geht immer auf«, sagte er. »Das ist gefährlich, wissen Sie. Man kann sich übel weh tun, wenn man schnell läuft und der Rollschuh aufgeht.«
    »Und wie schnell läufst du?« fragte Buddwing.
    »Oh, ich denke, ungefähr dreißig Stundenkilometer«, sagte der Junge. »Hier, sehen Sie? Die Schraube klemmt, ich kann sie nicht festziehen. Ist vielleicht eingerostet.«
    »Soll ich mal versuchen?« sagte Buddwing.
    »Warum nicht – wenn Sie wollen. Das Ding ist eingerostet. Hier.« Er drückte Buddwing den Rollschuh und den Schlüssel in die Hand. »Wohnen Sie hier in der Gegend?« fragte er.
    »Nein«, sagte Buddwing.
    »Kam mir auch so vor, als hätte ich Sie hier noch nicht gesehen.« Er beobachtete, wie Buddwing sich mit der Schraube an der Unterseite des Rollschuhs abmühte. »Eingerostet, nicht?« sagte er.
    »Scheint so.«
    »Ich hab's Ihnen ja gesagt. Und wo wohnen Sie?«
    »Oh, in einem anderen Stadtteil«, sagte Buddwing.
    »Ist es hübsch da?«
    »Ja, es ist schon in Ordnung«, sagte Buddwing.
    »Gibt es da auch einen Spielplatz?«
    »Ja.«
    »Wir haben hier auch einen«, sagte der Junge.

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