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Schock

Titel: Schock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hunter Evan
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geworden war, den Job in Di Palermos Kolonialwarengeschäft angenommen hatte.
    Er hatte den Job angenommen, weil er seiner Mutter fünfundzwanzig Dollar schuldete.
    Das war es, dachte er.
    Ich kann mich an die Werkstatt erinnern. Bei Gott, damals wußte ich, wer ich war; ich wußte es jeden Morgen, jeden Nachmittag, sommers und winters – auch in dem Sommer, in dem ich Eric zeigte, wie man aus einem Pfirsichkern einen Ring macht: man schleift ihn auf dem Gehsteig flach und höhlt dann mit einem Messer das Innere aus, bis er auf den Finger paßt. Das hatte mir Großvater beigebracht, er hatte es in seiner Heimat gelernt. Großvater war ein gütiger Mann – genügten fünfzig Dollar?
    Wirklich?
    Er ging in die Herrenabteilung des Geschäfts und dachte: nun, damals war ich noch ein Junge, erst sechzehn, es mochte genügen. Dann sah er die Anzüge, Mäntel, Jacken und Hosen in ordentlichen Reihen an den Gestellen hängen; das Gestell seines Großvaters kam ihm in den Sinn, mit der langen, gebogenen Stange, nach der sich sein Großvater immer recken mußte, um einem Kunden ein Kleidungsstück vorzulegen. Intuitiv fühlte er, daß er sehr nahe daran war, in einem wichtigen Punkt über sich selbst aufgeklärt zu werden; er sah sich nach jemandem um, der ihm helfen konnte. Es waren mehrere Verkäufer in der Abteilung und nur ein Kunde, ein alter Herr in unmodernem Mantel, der mit seinem Stock an den Sportjacketts, die an einem der Gestelle hingen, herumstocherte, als wollte er ihre Haltbarkeit erproben. Buddwing ging auf den nächsten Verkäufer zu, einen jungen Mann in den Zwanzigern, offenbar gerade dabei, sich einen Schnurrbart stehen zu lassen, den er ständig zwirbelte, damit er ihm nicht über die Lippen wuchs. Der Verkäufer ließ die Hand fallen und sagte: »Kann ich etwas für Sie tun, Sir?«
    Buddwing zögerte. Wieder befiel ihn jene Unsicherheit, die er in der Halle des Hauses verspürt hatte, in dem Gloria wohnte, und die ihn überfallen hatte, bevor er Di Palermos Geschäft betrat. Es drängte ihn, zu erfahren, wer er war, doch irgend etwas warnte ihn vor der allzunahen Erkenntnis, mahnte ihn zur Vorsicht – es ging um seine Existenz.
    »Ja, Sir?« sagte der Verkäufer.
    Buddwing befeuchtete die Lippen. »Dieser – dieser Anzug …« sagte er.
    »Ja, Sir?«
    »Ist das Maßarbeit?«
    Einen Moment lang musterte ihn der Verkäufer neugierig, dann sagte er: »Dürfte ich bitte das Etikett sehen, Sir?«
    Buddwing knöpfte sein Jackett auf. Der Verkäufer studierte das Etikett, wie es schien, ungebührlich lange. Gleich wirst du es mir sagen, dachte Buddwing. Du wirst sagen: ja, Sir, das ist einer unserer Maßanzüge, und dann wirst du in alten Rechnungen blättern und mir sagen, daß der Anzug für jenen Direktor von Central Islip angefertigt ist. Du wirst mir sagen, daß ich Edward Vossler bin. Dann weiß ich es. Dann habe ich es hinter mir.
    »Nein, Sir«, sagte der Verkäufer. »Dieser Anzug stammt aus einer Serie Maßkonfektion, die letztes Jahr eigens für uns in England hergestellt wurde. Wir haben sie im letzten Herbst herausgebracht.«
    »Ah so«, sagte Buddwing. »Im letzten Herbst.«
    »Gewiß, Sir.«
    »Besten Dank.«
    »Keine Ursache, Sir. Aber wenn ich Ihnen noch etwas zeigen darf, vielleicht …«
    »Nein«, sagte Buddwing. »Besten Dank.« Er machte kehrt und verließ die Herrenabteilung. In ihm war kein Gefühl. Nichts. Weder Enttäuschung noch Freude, weder Erleichterung noch Angst.
    Nichts – nur der beherrschende Drang, Wasser zu lassen. Er eilte der Neunundvierzigsten Straße zu, bog dann von der Fifth Avenue ab, ging an der Rollschuhbahn vorbei, überquerte die Straße, passierte die Ausstellungsräume von RCA, vor denen dümmliche Schulkinder im Sieh-dich-selbst-Fernsehgerät Fratzen schnitten, kam dann zur Garage des Rockefeller Center, wo er so abrupt nach links einbog, als wäre er hier schon viele, viele Male gewesen. Er ging in den Warteraum an der Westseite, am Zeitungsstand vorbei – die Mittagsblätter hatten die Nachricht vom Ausbruch des Geistesgestörten übernommen und brachten sie in Schlagzeilen –, dann an den Kassenschaltern vorbei, den Telefonzellen, dem Fahrstuhl, der zur Damentoilette führte, den Gepäckschließfächern, schließlich die Stufen zur Herrentoilette hinunter. Als er eintrat, wusch sich gerade ein Mann am Waschbecken die Hände, ein anderer Mann stand an einem der Urinale. Buddwing öffnete seinen Reißverschluss und fingerte an seiner Hose, als

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