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Schock

Titel: Schock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hunter Evan
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rollten Straßenbahnen, das Schrillen ihrer Klingeln war scharf und grell, Funken stoben von der Oberleitung. Vor allem erinnerte er sich der eiskalten Wintertage von Harlem und der Vorfreude, die die erste Ankündigung des Herbstes mit sich brachte. Er wußte noch, daß es in jedem Herbst plötzlich Apfelgelee und Apfeltorte gab. Er erinnerte sich an Halloween, an die kreidegeweißten Stöcke und mehlgefüllten Strümpfe, mit denen man Schulmädchen durch die engen grauen Straßenschluchten jagte. Die Hundertzwanzigste zwischen First und Second Avenue, das war der Schauplatz seiner Kindheit – nicht der Central Park. All dessen konnte er sich entsinnen – Bundhosen, die ihm über die Knie bis zu den Knöcheln rutschten; und hinter allem stand irgendwie das Bild des hochgewachsenen, weißhaarigen Mannes mit der dicken Brille, der sein Großvater war. Von der Bügelmaschine im Hinterzimmer drang immer Dampf herein, Onkel Freddy grinste herüber – »sieh da, wie geht's« –, er zog das gepolsterte Oberteil der Maschine herunter, drückte den Hebel, der Dampf zischte durch die Bügelpolster und hüllte Onkel Freddy in eine dicke weiße Wolke. Er entsann sich einer Wahlnacht in New York, als er noch ein Junge war, riesige Holzfeuer auf den Straßen, die älteren Jungen sprangen in die Rinnsteine, um Holz ins Feuer zu werfen, Plaketten für Alf London, die sein Vater vom Republikanischen Club bekam und mit denen er und Eric fast alle auf der First Avenue geparkten Wagen beklebt hatte. Damals trug er die braunkarierte Joppe, die sein Großvater ihm geschneidert hatte, und eine lammfellbesetzte Fliegerkappe mit Schutzbrille. Natürlich war Eric der erste Junge in der Gegend gewesen, der die Fliegerkappe mit Brille getragen hatte; danach trug sie alle Welt. Sie war genau das Richtige für eine Wahlnacht, in der die Holzfeuer Rauch und Funken stoben.
    Wie still war es an Winternachmittagen auf dem Weg von der Schule zu der Schneiderwerkstatt nahe der Hundertsiebzehnten Straße – seine Mutter arbeitete damals, hatte einen Job in irgendeiner Packerei, seine Tante Martha gab ihm Frühstück; er fühlte die Kälte an den frostgeröteten Wangen, die Fliegerkappe unter dem Kinn zugeschnallt, die Zelluloidbrille über die Augen gezogen, eine Hand in der Tasche der braunen Jacke, die andere, behandschuht, schwenkte seine zusammengeschnürten Bücher, das Pflaster der First Avenue war blank und grau. Die Schneiderwerkstatt schien ihm immer schon von weitem zuzuwinken. Früh am Nachmittag stellte der Großvater das Licht ins Schaufenster, und wenn Harlems Wintergrau in Dämmerung überging, strahlte die Ladenfront Wärme aus. Über der Ladentür hing eine kleine Glocke, er reckte sich nach dem Griff, die Glocke läutete, Großvater schaute hinter dem Ladentisch auf, Großmutter von der Nähmaschine nahe dem Vorderfenster, und dann sagte Großvater jedes Mal, ohne eine Silbe zu ändern: »Komm herein; du siehst wieder halb erfroren aus. Annie, mach ihm eine Tasse heiße Schokolade.« Und dann folgte er Großmutter hinter den Ladentisch, Großvater fuhr ihm durchs Haar, wenn er an ihm vorbei ins Hinterzimmer ging, wo Onkel Freddy an der Bügelmaschine stand – »sieh da, wie geht's?« –, und er wartete mit Großmutter an der Kochplatte, auf der sie ihm seine Schokolade machte. Auf einem Bord über dem langen Zuschneidetisch gegenüber der Bügelmaschine stand ein Telefon. Großvater hatte gewöhnlich Uniformaufträge von der Heilsarmee, und die weißen Buchstaben, die später auf die Uniformkragen genäht wurden, lagen immer auf dem Zuschneidetisch herum. Es war so warm in der Werkstatt. Er stand an der Kochplatte, der Dampf der Bügelmaschine durchzog die Luft, dann nahm er seine Schokolade, ging zu Großvater hinter den Ladentisch und erzählte ihm von den Schulerlebnissen des Tages. Großvater hörte stets sehr aufmerksam zu, den Kopf auf die Seite gelegt. Sein Haar war schon damals weiß. Buddwing nahm an, daß sein Haar weiß gewesen war, solange er ihn kannte. Und Großvater schnalzte mit der Zunge, sagte hier und da ein Wort über den einen oder anderen Lehrer, nickte dann und wann zustimmend oder veranlasste Buddwing, ihm alle die aufregenden Einzelheiten eines neuen Vorhabens noch einmal zu erzählen, gleichzeitig Kunden bedienend, die den Laden betraten, und Buddwing gutmütig ermahnend, keine Schokolade auf neuen Kleidern zu verschütten.
    Plötzlich wußte er, weshalb er in dem Sommer, in dem er sechzehn

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