Schock
verlieren; als wäre die sechste Stunde in der Frühe dieses Tages fast auf die gleiche Art unwiederbringlich. Vergangenheit wie die tiefere, dunkle Vergangenheit, aus der er gekommen war. Ihm war, als müßten Gloria und Schwartz, wenn er ihnen wiederbegegnete, jetzt mindestens so alt sein wie der Mann und die Frau, die in der gleißenden Sonne auf der Bank saßen; Eric wäre ein Teenager; L.J. und die anderen hätten das mittlere Alter erreicht; sogar Janet, die er vor kaum zwanzig Minuten verlassen hatte, wäre jetzt eine beleibte Neurotikerin. Zwar konnte er sich nicht vorstellen, wie er sich in einem Zeitraum von sechs Stunden so weit und so schnell fortbewegt haben sollte; doch er wußte, daß die Gegenwart von den letzten Stunden nicht weniger bedroht war als von einer unergründlichen Vergangenheit.
Es war Mittag in New York. Auf der Fifth Avenue wimmelte es von Touristen und Leuten, die ihre Einkäufe besorgten; es war nicht mehr das Bild, dessen er sich vom frühen Morgen her entsann. Der raue Akzent Zugereister irritierte seine Ohren, seine Nerven. Leute stießen ihn an. Verkehrsgeräusche kreischten unaufhörlich. Die Sonne hing im Zenit des Himmels, ein riesiges, bewegungsloses Auge. Er zwängte sich an einer Rotte lärmender Kinder vorbei und beschleunigte dann den Schritt; es drängte ihn, irgendwo wieder aus der Menge aufzutauchen. Wortfetzen drangen an seine Ohren, blendeten, während er weiterging, in sein Gehör ein, blendeten wieder aus, sobald die Sprechenden an ihm vorübergegangen, aus seinem Leben gegangen waren, Fremde, die er nur flüchtig kennen gelernt hatte.
Er ging inmitten eines Stroms von Menschen, der ihm entgegenkam, sich vor ihm teilte: Frauen aus den Vorstädten mit ihren Frühjahrshüten, New Yorker Mädchen mit kecken, schnellen Schritten, die Schaufenster mit flinken Augen streifend, Herren von der Park Avenue, gemächlich mit Homburg und Handschuhen dahinschlendernd, Tänzer, die mit ausgeprägten Hinterbacken und muskulösen Waden in charakteristischem Entengang der Siebenundfünfzigsten Straße zueilten, alte Damen und junge Schauspielerinnen in Nerz, Homosexuelle, einander diskret mit den Fingerspitzen berührend, ein Verkehrspolizist, der müßig den Strom der Autos, Busse und Taxen beobachtete, Botenjungen mit Pappkartons voller Kaffee, eine Prostituierte, fremd in dieser Gegend, ein junger Pfadfinder, der an den Gebäuden hinaufstarrte – sie alle kannte er während der wenigen Sekunden, in denen ihre Gesichter, ihre Stimmen auf ihn zukamen, ihm nahe waren und dann hinter ihm verschwanden.
Entweder gehört dir diese Stadt oder sie gehört dir nicht, dachte er. Es hatte Tage gegeben, goldene Tage in unklarer Vergangenheit, an denen er auf dieser großartigen Straße hatte glauben können, daß die Stadt ihm gehörte, daß er ihr Alleininhaber war und daß die Menschen, die vorbeieilten, die Gehsteige, die Gebäude, ja die Luft von ihm nur gemietet hatten. An solchen Tagen hatte es ihn gedrängt die ungeheure, pariserische Fassade der St. Patrick's-Kathedrale zu umarmen, Cartier's glitzernde Fenster zu küssen, seine Hand über die glatten Flächen des Tishman-Gebäudes gleiten zu lassen. Entweder besitzt du diese Stadt ganz und gar, dachte er, oder du hast überhaupt keinen Teil an ihr. Entweder weißt du, wer du bist, oder du weißt es nicht. Und wenn du es nicht weißt, streifen sie wie ein riesiger Ameisenschwarm an dir vorbei, gehen ihren eigenen Ameisengeschäften nach; du siehst zwar das Vibrieren ihrer Fühler, aber die Signale sagen dir nichts.
Plötzlich entdeckte er das Geschäft von De Pinna auf der anderen Straßenseite – war es sein Ziel gewesen? Da drüben lag das Ende aller Zweifel, das Ende der Anonymität. Er würde nach der Herkunft seines maßgeschneiderten Anzugs fragen, er würde seinen Namen erfahren, wieder herauskommen und wissen, wer er war, die Stadt würde ihm gehören.
Die Ampel wechselte von Rot auf Grün, von WARTEN auf GEHEN. Er überquerte die Straße. Als er ein Junge war, hatte es nur Ampeln ohne Leuchtschilder gegeben, und selbst auf die Ampeln achtete damals kein Mensch. Man rannte quer über die Straße, wo immer sich eine Verkehrslücke auftat. Er mußte daran denken, wie er die Hundertzwanzigste Straße bis zur First Avenue hinaufgegangen und dann über das weiße Steinpflaster gestürmt war, bis er den Gehsteig auf der anderen Seite erreichte. Links lag der Kohlenhof mit seinen riesigen grünen Holztoren, auf der Fahrbahn
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