Schock
flüchtig, immer daran denkend, daß Sex zu dieser grandiosen, gemeinsamen Erfahrung gehörte, ihr eigentlicher Schlusspunkt war, doch hinausgezögert auf eine sehr bewusste Art, mit kleinen Berührungen, Bewegungen, verheißungsvollem Lachen – einer Art, der Tina mit leisem, erregtem, betrunkenem Lächeln schüchtern zustimmte.
»He, was haben wir denn hier?« schrie Jesse und rannte zur anderen Seite des Daches hinüber, wo ein Taubenkäfig aus Drahtgeflecht an einer Mauer lehnte. »He, ihr da drinnen«, sagte er und steckte den Finger durch den Maschendraht, während Tina kicherte und Sally lachend gegen ihn taumelte.
»Lasst die Tauben in Ruhe!« rief ein Mann vom Nachbardach herüber, und Jesse lachte laut auf.
»Warum? Sind das Ihre?« rief er zurück.
»Gehören meinem Freund«, antwortete der Mann, ein Chinese, mit hoher, wütender Stimme und drohte mit der Faust herauf.
»Sie und Ihr Freund können uns mal«, rief Sally, riß plötzlich die Tür des Käfigs auf und rief: »Husch, husch! Alle raus, alle raus!«
Lachend steckte Jesse seine Hände in den Käfig und schrie: »Klar doch, alle raus!« Die Tauben flatterten wie wild ins Freie, und der Chinese auf dem niedrigen Dach schüttelte die Faust und schrie: »Ich hol' die Polizei! Wartet nur!«
»Hol lieber die Vögel zurück, Mann«, schrie Jesse, und alle lachten laut.
Sallys Hände waren ständig in Bewegung. Sie betastete, überredete, ließ sie alle keinen Augenblick vergessen, was es geben würde, wenn es ihnen nur gelang, diese märchenhafte Stimmung zu wahren. Tinas Bluse stand offen – Buddwing hatte sie in der Wohnung aufgeknöpft –, und während sie lachend im Schein der Nachmittagssonne auf dem Dach standen und auf die wütenden Reden des Chinesen hörten, versuchte sie mit unsicheren Fingern, die Bluse wieder zuzuknöpfen, gab es dann aber auf und sagte: »Zum Teufel damit!«
»Braves Mädchen«, sagte Sally ermutigend, hob die Flasche an die Lippen und brachte es gleichzeitig fertig, ihre Hüfte gegen Buddwings Scham zu pressen.
Sein Begehren wandelte sich in einen dumpfen Schmerz, doch unter diesem ständigen Schmerz blieb etwas, das ihn ständig warnte. Zwar gab er sich dem Fest, das sich fraglos in eine Orgie verwandeln würde, in seiner Trunkenheit ganz hin, doch gleichzeitig erklang die Warnglocke wieder und sagte ihm, daß es keine Schwierigkeiten mit der Polizei geben durfte: er hatte keinen Ausweis, und er war Edward Vossler, ein entsprungener Wahnsinniger. Er wünschte sich vom Dach fort, zurück in Sallys Wohnung, bevor der Chinese seine Drohung wahrmachte und die Polizei rief. Er schwelgte in den wildesten Phantasievorstellungen: Sally, die mit gespreizten Beinen mitten in ihrem Wohnzimmer stand, die Perlenvorhänge hinter sich; und er faßte den Saum ihres Kleides mit beiden Händen und riß ihr das geschlitzte Kleid auf, riß es ihr über den Leib, die Hüften, die Brüste, bis sie nur noch in ihrem feinen chinesischen Unterzeug dastand. Er fühlte sich zu Sally hingezogen, weil sie es ihm unmöglich machte, sie zu vergessen; gleichzeitig reizte ihn die betrunkene, lächelnde, scheinbare Jungfräulichkeit Tinas, erregte es ihn, sich vorzustellen, daß sie alle in einem Bett lagen. Und irgendwie schloß dieses Gefühl auch L.J. Beethoven und Rotweste ein, die er seit Kriegsbeginn nicht mehr gesehen hatte. Und dann entdeckte er mit betrunkener Klarheit, daß der Gedanke, mit Jesse im gleichen Bett zu liegen, ihn ebenso erregte wie die Vorstellung, mit den Mädchen ins Bett zu gehen. Die Entdeckung ließ ihn auffahren und zerfetzte nahezu den Schleier der Trunkenheit. Als er heute früh aufgewacht war, wußte er nichts von sich selbst; und nun ergab sich plötzlich, daß er möglicherweise homosexuell war.
Die Vorstellung des Wortes, das volle Erfassen des Wortes, das Bild, das dieses Wort vor seinem inneren Auge erstehen ließ – das Bild eines geschminkten, ondulierten, gezierten, weibischen warmen Bruders –, brachte ihn jener Grenze gefährlich nahe, an der alle Trunkenheit verfliegt. Um sich zu retten, riß er Sally die Flasche aus der Hand und nahm einen großen Schluck; um sich selbst seine Männlichkeit zu beweisen, um sich zu versichern, daß ihm an nichts anderem lag, als auf Sally zu liegen, während Tina irgendwie auf ihm lag, reichte er Jesse die Flasche und legte die Arme um beide Mädchen, um Sally so, daß er eine kleine, runde Brust unter der chinesischen Seide faßte, um Tina so, daß er ihr
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