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Schock

Titel: Schock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hunter Evan
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Bank in der Sonne und ließ sich mit der selbstzufriedenen Miene eines Mannes darauf nieder, der genau weiß, was ihm als nächstes begegnen wird, und der darauf vorbereitet ist.
    Das nächste, das ihm begegnen würde, war Grace.
    Er streckte die Arme auf der Rückenlehne der Bank aus und betrachtete das Universitätsgebäude. Washington Park und Fifth Avenue lagen hinter ihm und zu seiner Linken. Er spürte, wie die kräftigen Strahlen der Nachmittagssonne seinen Kopf, seine Schultern berührten, und wünschte sich, ihnen das Gesicht zuwenden zu können, doch er wußte, daß Grace bald die Fronttreppe des Gebäudes herunterkommen würde; und in diesem Moment wollte er sie sehen. In seiner Vorstellung entwickelte er eine kleine Pantomime: Grace erschien plötzlich, ihre Bücher unter dem Arm, in Rock und Pullover, und ging zu einer Bank am anderen Ende des Parks; dann würde er aufstehen, hinübergehen und sich zu ihr setzen. Er lächelte erwartungsvoll und lauschte den Geräuschen des Lebens ringsum.
    Irgendwo hinter ihm spielten zwei Männer Schach; alte Männer, nach dem Klang ihrer Stimmen zu urteilen. »Ich nehme zurück«, sagte einer von ihnen, und der andere antwortete: »Du nimmst andauernd zurück; lass die Figuren stehen.« Ein Straßensänger mit Gitarre – farbig der Stimme nach, doch Buddwing war sich nicht sicher – begann in sanft klagendem Ton Greensleeves zu singen; das laute Dröhnen eines Flugzeuges am Himmel setzte den Kontrapunkt. Studenten, deren Vorlesungen auf den Samstag fielen, saßen auf den Bänken, unterhielten sich, erfüllten die Luft mit freundlichem Stimmengewirr. Er spürte die Stadt hinter sich, um sich, lebensvoll pulsierend. Er saß in sonnengefleckter Helle, Kern einer Stadt, die von Millionen wimmelte; einen Moment lang saß er völlig allein in sonnendurchwobener Abgeschiedenheit, während die Menschen der City ihren Geschäften nachgingen und keine Notiz von ihm nahmen. Er spürte, wie ein Gefühl echter Identität still, langsam und tastend seine Muskeln und Knochen durchdrang, mit der gleichen Kraft wie die Sonne, die lockend, wärmend, einschläfernd seine Schultern berührte.
    Sein Großvater war mitten im Winter gestorben; er mußte oft daran denken, daß man den alten Mann in eine grausam kalte, starre Erde gesenkt hatte.
    Während er in der Sonne saß, schienen zwei Erinnerungen, die sich überschnitten, in schnellem Wechsel in seinem Hirn aufzutauchen; beide wollten erfasst, begriffen werden; die eine war bestürzender als die andere, und dennoch waren beide nicht so beängstigend, wie sie es, das war ihm klar, eigentlich sein sollten. Bei der ersten ging es um den Tod seines Großvaters, die zweite …
    Er runzelte die Brauen: bei der zweiten Erinnerung schien es gleichfalls um den Tod seines Großvaters zu gehen; doch schließlich konnte sein Großvater nicht zweimal gestorben sein. Sein Großvater war nur einmal gestorben, ein für allemal, am zwölften Januar; das Datum saß fest in seinem Gedächtnis, denn es war zwei Tage nach seinem sechzehnten Geburtstag gewesen. Man hatte an einem trüben, unfreundlichen Tag in Harlem die Totenwache gehalten – der Himmel ein einförmiges Metallgrau quer über den Dächern der Second Avenue. Das Bestattungsinstitut lag im Parterre eines Mietshauses.
    Ja, dieser Tag, dachte er. Irgend etwas war nicht in Ordnung an diesem Tag.
    Nicht in Ordnung an diesem Tag war, daß sein Großvater tot war und in einem Sarg lag. Sonst gab es nichts, das nicht in Ordnung gewesen wäre. Doch dieser Umstand hatte nichts Beängstigendes an sich. Weshalb verband sich die Erinnerung für ihn mit einem Gefühl der Bedrängnis? Er konnte sich den alten Mann noch vorstellen, das weiße Haar auf der weißen Seide des Sarges, die Augen geschlossen, die wächsernen Hände sanft über dem Rosenkranz auf seiner Brust gefaltet. Er entsann sich der Begräbniskapelle noch bis in die Einzelheiten: Blumenarrangements um den Sarg, auf dem Fußboden, durchdringender Duft, Reihen hölzerner Klappstühle. Auf einem der Stühle saß Großmutter in schwarzem Kleid und empfing mit fassungslosem Gesicht die Beileidswünsche der Trauergäste. Sein Großvater hatte nicht mehr ausgesehen wie er selber, etwas seltsam Fremdes war in seinem Gesicht. Und doch gab es nichts Beängstigendes an diesem Erinnerungsbild. Im Gegenteil, ein sanftes, zartes Flüstern lag über der Szene, die sich seinem Gedächtnis darbot.
    Trotzdem war es ein bedrängender Tag gewesen.
    Noch

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