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Schock

Titel: Schock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hunter Evan
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Von diesen Details abgesehen – den Kalendern, dem Abakus, dem Mahjong, den Drucken – glich die Wohnung durchaus Hunderten von Wohnungen in der Gegend, in der Buddwing geboren und aufgewachsen war. Doch nein – da war noch etwas, und gerade das rief ihm die Baracke in Yokohama mit besonderer Eindringlichkeit ins Gedächtnis zurück: das feine Aroma glimmender Räucherkerzen.
    »Wollt ihr etwa wirklich Tee?« fragte Sally.
    »Hattet ihr denn etwas anderes im Sinn?« sagte Jesse.
    »Vielleicht einen Drink, aber …« Sally zuckte die Achseln. »Was meinst du, Tina, ist es für die Marine noch zu früh?«
    »Für mich ist es auf jeden Fall noch zu früh«, sagte Tina.
    »Tina braucht nur an einem Korken zu riechen«, erklärte Sally, »und schon versetzt es sie in die Zeit der Tang-Dynastie.«
    »Was ist das?« fragte Jesse.
    »Die Tang-Dynastie? Die lag vor der Ming-Dynastie«, erklärte Sally.
    »Und die Ming-Dynastie«, versuchte Buddwing einen Witz, »ist die Dynastie des Kaisers Ming bei Flash Gordon.«
    »Und wer ist der Kaiser Ming?« fragte Tina.
    »Ein riesiger, kahlköpfiger Mann in weiten Gewändern mit einem strichfeinen hängenden Schnurrbart. Ming. Haben Sie nie Flash Gordon gelesen?«
    »Nein«, sagte Tina.
    »Und wie alt sind Sie?«
    »Zwanzig.«
    »Ich habe Flash Gordon gelesen«, sagte Sally. »Sein dick aufgetragenes Chinesentum ist einfach widerlich.«
    »Dabei war er gar kein Chinese«, sagte Buddwing.
    »Aber er sah wie ein Chinese aus. Übrigens hatte ich einen Onkel, der genau wie Ming aussah.«
    »War da nicht vor einer Weile von einem Drink die Rede?« fragte Jesse.
    »Ich dachte, Sie wären der große Tee-Trinker«, sagte Sally lächelnd.
    »Ich bin der große B-Trinker«, sagte Jesse. »B heißt Bourbon.«
    Sally ging in die Küche; Jesse warf den Stapel bunter Kissen um und setzte sich auf eines davon. Tina und Buddwing saßen auf der Couch. Er spürte den Räucherkerzenduft jetzt sehr stark. Der Duft schien hinter der Couch hervorzudringen, doch er konnte die Räucherpfanne nirgends entdecken. Das Aroma füllte den Raum. Er musterte das Mädchen, das neben ihm saß – die kleine, geschmacklos gekleidete Japanerin mit dem viel zu stark geschminkten Gesicht. Im anderen Raum hantierte die Frau mit dem Goldzahn. Die Sonne schien schräg durch das eine Fenster der Baracke, ihre Strahlen berührten die glühenden Kohlen des Hibachi mitten im Raum. Jesse machte es sich auf dem Fußboden bequem. Draußen hörte man das Tappen sandalenbekleideter Füße, unverständliche Sätze, die Japaner einander zuriefen, den Ausruf eines Obsthändlers auf seinem Weg durch die benachbarten Straßen. Und immer roch es nach Fisch und Rauch, immer, ein Duft, der fast greifbar über jeder japanischen Stadt hing, ein eigenartiger Oktoberduft, selbst im Mai. Er drang durch das offene Fenster und mischte sich mit dem feineren Duft der Räucherkerzen. Auf dem Hibachi briet eine Kartoffel. Die Frau kam aus dem anderen Raum wieder herein und lächelte, der Goldzahn blitzte in ihrem Mund; und damit hatte es angefangen.
    Sally und Jesse tranken Bourbon – mit wenig Wasser, bitte –, Buddwing und Tina tranken Scotch auf Eis. Ungefähr beim dritten Drink begriff Buddwing, daß die Bahn, auf der sie dahinglitten, zu einem monumentalen Gelage führte. Das Gelage in der Wohnung an der Seitenstraße begann mit Bourbon und Scotch, mit Schallplattenmusik und damit, daß Sally plötzlich aufsprang und allein zu tanzen begann, als wäre sonst niemand im Zimmer. Tina kicherte, solange Sally tanzte, Buddwing schob seine Hand unter ihren Rock, und sie preßte sie zwischen die Schenkel, dann bekam er noch einen Drink, während Jesse für Sally Beifall klatschte, und dann nahmen sie alle noch einen Drink – Tina saß jetzt auf seinem Schoß –, und danach nahm Jesse Sally in die Arme und küßte sie.
    Buddwing wunderte sich ein wenig, als Jesse Sally zu küssen begann, denn er wußte, daß Jesse bis über beide Ohren in ein mexikanisches Mädchen verliebt war, das in einer Vorstadt von San Antonio wohnte und Jesse beigebracht hatte, Leute zu hypnotisieren. Jesse war ein gläubiger Anhänger der schwarzen Magie, die ganze Besatzung des Schiffes riß Witze darüber; doch über seine Fähigkeit, Leute zu hypnotisieren, machte sich niemand lustig. Sie drängten sich im Sonarraum, ungefähr einsachtzig mal achtachtzig, und Jesse fixierte mit seinen blauen Augen die Stirn eines anderen und bewegte seinen Zeigefinger hin und

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