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Schock

Titel: Schock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hunter Evan
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jetzt erschauerte er vor der Erinnerung; gleichzeitig fühlte er: die Angst betraf nichts, das am Tag des Begräbnisses geschehen war – sie betraf etwas, das viel später vorgefallen war, an einem warmen Tag, ja, im Sommer, ja, Di Palermos Kolonialwarenladen, Apartment 4 A, 2117 Riverside Drive – nein!
    Sein Gedächtnis verriegelte sich.
    Er wich zurück, ohne Würde, wich vor der zweiten Erinnerung zurück; sie barg etwas Entsetzliches. Er versuchte bewußt, in die halbe Sicherheit der ersten Erinnerung zurückzukehren, obwohl er überzeugt war, daß zwischen beiden eine Verbindung bestand, daß die eine der anderen ihre Existenz verdankte. Doch dann kam, wie ein feiner, warnender, raunender Wind, die klare Erkenntnis, daß jede Erinnerung mit anderen untrennbar verbunden war, daß Schrecken auf Schrecken nur darauf wartete, aus den verschiedenen Winkeln seines Gedächtnisses aufzutauchen und ihn zur Konfrontation zu zwingen – eine Erkenntnis, die ihn vollends bestürzte.
    Wo mag Grace nur bleiben, fragte er sich und schaute wieder zur Universitätstreppe hinüber. Er sah sie nicht, konzentrierte jedoch seine Aufmerksamkeit auf die Treppe – er wußte, sie mußte bald kommen. Doch die Verzögerungstaktik half nichts. Seine Gedanken kehrten zu dem Tag zurück, an dem sein Großvater in Harlem beerdigt worden war; aber nun schien diese Erinnerung nicht mehr so bedrückend, weil man in ihr sicher war. Nur vor den anderen mußte man sich hüten. Er zwang sich, an die Totenwache zu denken, aber das warnende Raunen blieb, das ihm sagte: öffnete er nur einmal die Schleusen, so würde nichts den Strom der Erinnerung hemmen können – eine donnernde Kaskade würde über ihn hereinbrechen, er würde ertrinken. Von dem Bestattungsinstitut war er mit seiner Cousine Mandy nach Hause gegangen. Sie war drei Monate älter als er und trug zur Abwechslung einmal nicht ihren törichten Mannschaftspullover, sondern ein einfaches schwarzes Kleid. Unbekümmert gingen sie durch die Straßen von Harlem; beide waren hier in Armut und Schmutz geboren, und obwohl sie inzwischen längst zu den sauber gewaschenen Einwohnern der Bronx gehörten, saß ihnen doch ein Rest von Harlem in den Knochen, als gehörte er zu ihnen. Der Blumenladen lag an der Ecke der Hundertsechzehnten Straße und der Third Avenue, gegenüber dem Cosmo-Theater, in das seine Mutter ihn als Jungen oft mitgenommen hatte. Sie gingen in den Laden, um für ihren toten Großvater einen Blumenkranz zu kaufen; beide hatten das Gefühl alt genug zu sein, um ihrer Zuneigung Ausdruck zu verleihen – wenn Mandy ihm auch unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit anvertraute, sie habe den alten Mann nie übermäßig gern gemocht, ein Geständnis, das Buddwing ärgerte und das er ihr beinahe übel genommen hätte.
    Er hatte noch nie in seinem Leben einen großen Einkauf gemacht und wußte, daß er von seiner Mutter Geld borgen mußte, um seinen Teil zum Kranz beisteuern zu können. Im Laden gab es zahllose Kränze. Die Frau, die sie bediente, trug eine grüne Schürze, die Trägerbänder voller Stecknadeln; sie half ihnen geduldig, ihre Wahl zu treffen. Ein Kranz nach dem anderen wurde ausgeschieden, bis schließlich nur noch zwei übrig blieben. Der eine von ihnen kostete fünfundsiebzig Dollar, der andere fünfzig.
    »Ich glaube, wir sollten den zu fünfzig nehmen«, meinte Mandy.
    Buddwing schüttelte den Kopf. »Nein, wir nehmen den zu fünfundsiebzig.«
    »Zu teuer«, sagte Mandy.
    »Aber er ist für Großvater«, entgegnete Buddwing.
    »Trotzdem zu teuer.«
    Die Frau mit der grünen Schürze sagte: »Der Kranz für fünfzig Dollar ist sehr hübsch.«
    »Ja, aber – sehen Sie, es ist für unseren Großvater«, sagte Buddwing.
    »Ich verstehe«, sagte die Frau. »Aber der Kranz zu fünfzig ist wirklich hübsch.«
    »Ich glaube, wir sollten den teureren nehmen«, sagte er zu Mandy.
    »Das kostet uns jeden siebenunddreißig fünfzig«, sagte Mandy. »Wirklich, das ist zu viel.«
    »Ich meine, der Kranz zu fünfzig wäre eine schöne Gabe«, sagte die Frau.
    »Ja, aber sehen Sie – es ist unser Großvater«, sagte Buddwing lahm. Es wurde still im Laden.
    »Ist denn auch eine Schleife an dem zu fünfzig?« fragte Mandy.
    »Aber natürlich.«
    »Könnte ›In liebender Erinnerung‹ darauf stehen?«
    »Ganz, wie Sie wollen.«
    »Das wäre hübsch«, sagte Mandy und wandte sich zu Buddwing. »Ich finde das hübsch. Du nicht auch?«
    »Ist das die gleiche Schleife, die

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