Schock
beleuchteten Stille in der Operationszentrale der Fancher still geweint. Gewiß, er hatte Freunde an Bord der Fancher, aber mit den Jungens in der Heimat konnten sie sich nicht messen. Und deshalb war dieses Gelage, waren alle Gelage, alle die taumelnden, fallenden, torkelnden, in Hurenhäusern endenden Gelage von Norfolk bis Pensacola, von Guantánamo Bay bis Colón (er hatte L.J.s Brief in Panama bekommen und in der Radarstation geweint, während eine milde tropische Brise durch das offene Schott wehte), von San Diego über Pearl Harbour bis Sasebo und nun in Yokohama – all diese Gelage waren nur ein Versuch, in seinem Leben etwas Wirkliches und Bedeutsames wiedererstehen zu lassen; ein vager, törichter Versuch, Ersatz zu schaffen. Das Wirkliche, das Bedeutsame hatte es nur in jenen Straßen von Harlem gegeben, als sein bester Freund ein Junge namens Eric Michael Knowles gewesen war, dem er gezeigt hatte, wie man einen Pfirsichkernring macht, und in jener klösterlichen Schneidewerkstatt bei dem hochgewachsenen, weißhaarigen Mann, der sein Großvater war. Dann war er nach dem Umzug in die Bronx abermals auf Wirklichkeit gestoßen: in der Sicherheit der verschworenen Gruppe, deren Kern aus L.J. Beethoven, Rotweste und ihm selbst bestand. Und dann war das Ganze irgendwie zerfallen – waren fünfzig Dollar etwa genug? –, zerfallen in der Wirrnis des zweiten Weltkrieges, in der Marine der Vereinigten Staaten. Und nun versuchte er, mit Tina etwas wieder zu finden, das er vor langer Zeit gekannt hatte – Doris' Unschuld vielleicht, die blanke Unschuld jener Radfahrnachmittage, vielleicht auch die Heiterkeit eines gelassenen, einfachen Daseins ohne Verantwortlichkeiten und Pressionen. Nun trank er sich mit einer Hure, die er auf dem Dach des Mannschaftsclubs von Yokohama aufgelesen hatte, in ein besänftigendes Vergessen hinein. Dies war nicht Wirklichkeit, und er wußte mit verzweifelter Sicherheit, daß es die Wirklichkeit, die er gekannt hatte, nicht mehr geben würde, wenn er schließlich in die Heimat zurückkehrte. Der Whisky schützte ihn vor dieser Erkenntnis – der Whisky und das leise, suchende Tasten an der Innenseite von Tinas Schenkel, verstohlene Verheißung in ihren Augen; Lust und Alkohol wallten in ihm auf, erstickten alles andere – das sollte der längste Nachmittag seines Lebens werden. Er wußte: noch bevor er endete, würde er, kaum spürbar, ein anderer sein; er wußte, daß er in eine andere Landschaft zurückkehren würde, wenn die Marine ihn einst entließ, eine Landschaft, in der er, vorsichtig wie ein Fremder, herumtappen würde; und er wußte, wer auf ihn wartete.
Kurz vor zwei Uhr stürmten sie grölend aus Sallys Wohnung zum Dach des Hauses hinauf. Jesse wollte die Mädchen die Treppe hinauftragen, doch Sally, der es in ihrer vernünftigen, vorsichtigen, sexbewußten, noch im Rausch überlegenen Art darum ging, die Hochstimmung zu wahren und dafür zu sorgen, daß sie nicht zerfiel, bevor sie alle freudig erschöpft und nackt waren, nahm Jesses Hand mit der linken, faßte dann Buddwings Hand mit der rechten, und sie rannten zu dritt lachend die Treppe hinauf. Tina blieb auf dem Absatz stehen. Vor der Tür, die aufs Dach hinausführte, machten sie halt, und Jesse rief: »He, wo ist Tina?« Dann ließ er Sallys Hand fahren, stürmte wieder hinunter, packte die kichernde, strampelnde Tina, nahm sie auf seine Arme und stieg taumelnd mit ihr wieder hinauf, dorthin, wo Sally und Buddwing vor der Dachtür standen. »Der spinnt aber wirklich«, sagte Sally und küßte Buddwing fest und verheißungsvoll auf den Mund. Dann lachte sie nochmals und küßte Jesse, als er Tina vor ihr auf die Füße stellte, und Buddwing begriff, daß sie zu viert im gleichen Bett landen würden. Lachend stießen sie die Tür auf und stürmten auf das geteerte Dach hinaus. Und plötzlich öffnete sich die Stadt unter ihnen wie ein geborstener Tontopf und zeigte ihre Brücken und Hochhäuser, ihre Bänder aus Asphalt und Wasser. Der Ausblick war überwältigend und ernüchterte sie fast auf der Stelle. Doch Jesse hatte vorsorglich daran gedacht, eine Flasche Bourbon aus der Wohnung mitzubringen; er lüftete den Pullover, um zu zeigen, wo sie in seinem Hosengurt steckte. Er zog den Korken, hob die Flasche an die Lippen und gab sie dann an Buddwing weiter. Sally nötigte ihn zu trinken – »los, Mann, nimm einen Schluck« –, obwohl es der Aufforderung nicht bedurfte, und berührte ihn dann, gekonnt und
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