Schock
Liftboy, der ihm immer Zigaretten anbot – er argwöhnte, daß es sich um Marihuana handelte – und ihm sagte, sein Vater wäre bei der Polizei und er dürfte ohnehin nicht rauchen – ha ha, sein Vater war keineswegs bei der Polizei; und wieder verriegelte sich sein Gedächtnis. Wenn das Weiße nicht wirkte, versuchte man es mit Schwarz. Man schob seine Gedanken zusammen wie den Verschluss einer Kamera, enger und enger, eine Blende, die alles in sich verengender Schwärze verschwimmen ließ, der scharfgezogene Kreis in der Mitte wurde immer kleiner, ließ immer weniger Licht eindringen, bis nur noch ein feiner Punkt da war; und dann verdrängte man das Bild des Kameraverschlusses – auch die Kamera war nur ein Gedanke –, man löschte es und damit auch den feinen Lichtpunkt im Zentrum des Hirns. Absolute Schwärze, man schwamm, schwamm nicht, trieb dahin, trieb nicht, ließ die Schwärze zu, dunkler, noch dunkler.
Nichts.
Irgendwie sah er Großvater ähnlich.
Nein, er sah Großvater nicht ähnlich; er war ein alter Jude und saß da, in seinen Schal eingewickelt, das Käppchen auf dem Hinterkopf, seine Hände zitterten, er hustete ständig, anfangs getraute er sich nicht in seine Nähe, aus Angst, sich an seiner Krankheit anzustecken – was es auch sein mochte.
Und nun drang in die Schwärze – er wußte, daß es so nicht ging, du hast mir einen Trick beigebracht, du Lump, der nicht funktioniert – in die Schwärze drang Erinnerung, schob alles andere beiseite, sickerte in das Zentrum der dunklen Fläche, riß das Dunkel wie einen Vorhang auseinander, verjagte seine Reste aus dem Hirn, bis nur noch die Erinnerung da war, vage und scharf, die Erinnerung an das erste Mal, als er in Apartment 4 A, 2117 Riverside Drive, Waren ablieferte; das farbige Mädchen öffnete die Tür, und der alte Mann saß in Schal und Käppchen am Fenster in der Sonne.
In dieses Bild schlich sich wie ein Nebenthema das Bild seines Großvaters im Sarg; nun wußte er, weshalb sein Großvater nicht mehr wie sonst ausgesehen hatte. Sie hatten ihm die Brille abgenommen. Nie zuvor hatte er Großvater ohne Brille gesehen. Der Mann im Sarg sah besonders verwundbar aus, als erwarte er einen Schlag ins Gesicht – sagte ich ihr nicht, daß fünfzig Dollar nicht genügen? – Doch dann dehnte sich die andere Erinnerung, die Erinnerung an jenes Apartment, sie wuchs, deutlicher jetzt, fast schmerzhaft scharf konturiert, und er wußte, hinter dem Schmerz lauerte Entsetzen; abermals versuchte er, die Gedanken zu verdrängen, doch sie ließen sich nicht beiseiteschieben. Sie ließen sekundenlang aufblitzende Vignetten vor ihm erstehen: wie er dem alten Mann zum ersten Mal eine Erläuterung zu der Zwieback-Lieferung vom Vortag gab, wie der alte Mann ihn aufforderte, eine Weile zu bleiben und sich mit ihm zu unterhalten – ein Schauer rieselte Buddwing über den Rücken.
Der alte Jude hatte eine Zartheit an sich gehabt, eine Art blaugeäderter, transparenter Güte, als er in der Sonne saß und sich jedes Mal, wenn Buddwing kam, um Waren abzuliefern, mit ihm unterhielt. Er hatte einen Schal um die Schultern gelegt, aus blauweißer Seide mit weißen Fransen, das schwarze Käppchen saß schief, fast verwegen auf seinem Hinterkopf. Sie unterhielten sich nie länger als ungefähr zehn Minuten, an jenem Fenster, von dem aus man den Hudson River überblickte, die Sonne strömte durch die Gardinen herein, das farbige Mädchen summte bei der Hausarbeit vor sich hin, und die sanfte Stimme des alten Mannes stellte Fragen: was Buddwing treibe, wie seine Zukunftspläne aussähen, er fragte nach Buddwings Freunden, nach Buddwings Träumen. Und dann erzählte er dem alten Mann, seine besten Freunde wären L.J. und Beethoven und Rotweste, erzählte ihm, daß Beethoven ein ausgezeichneter Zeichner war und hoffte, nach dem Abgang von der High School das Pratt Institute besuchen zu können. Er erzählte dem alten Mann von Doris und daß er ihr sein silbernes Schulabzeichen gegeben hätte – »du hast ihr ein Abzeichen gegeben, das du verdient hast?« fragte der alte Mann. »So ernst ist es dir mit diesem Mädchen?« Hier mit dem alten Mann in der warmen Sonne zu sitzen, erinnerte auf irgendeine Weise an die Schneiderwerkstatt, wo man ins Hinterzimmer ging, wo Onkel Freddy an der Bügelmaschine arbeitete und Großmutter Schokolade kochte, und dann ging man wieder hinaus zu Großvater, lehnte sich an den Ladentisch, schlürfte die Schokolade und erzählte
Weitere Kostenlose Bücher