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Schock

Titel: Schock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hunter Evan
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Reaktion seines Körpers auf Straßenpflaster und Fluchterregung. Man läuft zu wenig, dachte er; man wächst auf, und dann läuft man nicht mehr.
    Der Polizist und der alte Mann waren inzwischen außer Sicht geraten; sie bedeuteten keine Drohung mehr. Dennoch rannte er weiter; er wollte den Fluss erreichen, den Fluss und die Sonne. Er rannte durch eine Stadt, die plötzlich eindimensional geworden war, wie vom letzten Seitensitz eines Kinos aus gesehen. Die Menschen, die Häuser, die Laster, die vor dem Fleischmarkt zwischen der Ninth und Tenth Avenue parkten, die Hochstraßenkonstruktion des West Side Express Highway – alles glitt in flacher Unwirklichkeit an ihm vorüber; real waren nur der Fluss und die Sonne, und auch sie nur als halbverstandene Ziele. Du Hundesohn, eine Identität hast du ihm gegeben, nicht wahr? Indem du ihn umgebracht hast! Unsterblichkeit hast du ihm verliehen, nicht wahr? Wenn ich an ihn denke, wird er für mich immer der sein, der vor Tarawa fiel, das ist es doch? Und was sind alle die anderen, wenn ich an sie denke, du Hundesohn? Hast du ihnen auch Unsterblichkeit verliehen? Er mußte den Fluss erreichen, bevor die Sonne erlosch.
    Doch es war anders, als er erwartet hatte. Am Ufer des Flusses drängten sich Häuser und Schiffe. Er hatte sich gewünscht, auf einer Pier zu sitzen, zur flammenden Sonne hinaufzublicken, den hellen Fleck, ihr Spiegelbild im Wasser, zu finden. Und nun fragte er sich: wo war nur all der freie Raum? Mit euren Ladeschuppen und Schiffen habt ihr die ganze freie Welt verstopft. Wo soll ich mich ausruhen? Er rannte weiter, wandte sich abrupt nach Norden, seine Augen suchten das Hafengelände ab, seine Beine wurden müde, sein Herz pumpte heftig, seine Lungen schmerzten. Er wußte nicht, wie lange oder wie weit er lief, um in der unerbittlichen Barriere, die ihn vom Fluss fernhielt, eine Lücke zu finden, dem Südverkehr entgegen, der über ihm auf der Hochstraße dröhnte. Noch vor kurzer Zeit, als er müßig ein Geschwader Zerstörer auf der Mitte des Flusses beobachtete und einer seiner Freunde versuchte, das nächstliegende Schiff mit einem Stein zu treffen, war es anders gewesen.
    Doch als er sah, daß das geschäftige Treiben vor ihm noch eine weite Strecke seinen Fortgang nahm, wußte er, daß er nahezu die Gegend der Vierzigsten Straße erreicht hatte; er wußte zudem: wenn er noch einen Schritt weiterlief, würde er zusammenbrechen und sterben, ohne die Sonne je wieder zu sehen. Noch mehr Verwirrung und Lärm hätte er nicht ertragen. Er machte kehrt und rannte wieder den Fluss hinab. Doch dann zog es ihn zu dem gewaltigen schwarzweißen Rumpf des Ozeandampfers hinüber, der vor ihm in den Himmel ragte. Es zog ihn zu dem Durcheinander von Bord gehender Passagiere, dem Hupen der Taxis, den Rufen der Gepäckträger und Zollbeamten. Als wäre dies die Sonne, bewegte er sich auf die Menge zu, die auf der Landungsbrücke wimmelte, und hielt dann in seinem Lauf inne.
    Er stand mit hängenden Armen und lockeren Schultern und atmete die Luft in tiefen Zügen. Überall ringsum lärmte es, Stimmen in Englisch und Italienisch, ein Pudel, der aus dem Fenster eines geparkten schwarzen Cadillacs bellte, Kindergeschrei, knatterndes Motorengedröhn. Er sah eine Frau durch die Zollpforte kommen, einen Mann, der auf sie zustürzte, um sie zu umarmen, und fühlte sich plötzlich einsamer denn je in seinem Leben. Die Passagiere strömten auf die Straße hinaus, wurden umarmt, begrüßt, geküßt; und er stand am Rande der Menge, atmete heftig, beobachtete den Austausch liebevoller Grüße und begann plötzlich zu weinen.
    Er weinte bitterlich. Noch rang er nach Atem, und jeder Atemzug endete in einem krampfhaften Schluchzen, das ihn nahezu erstickte. Ungehört, ungesehen stand er am Rande der lärmenden Menge und weinte. Ein Schiffssteward schrie: »Presto, le valige della signora !«, und ein Taxifahrer röhrte: »Noch jemand nach Idlewild? Idlewild hier, wer will noch nach Idlewild?« Ein Baby begann plötzlich auf dem Arm seiner Mutter zu schreien, und ein Mann knarrte misslaunig: »Ich denke, Sie sind hier der Reisebegleiter?« Eine füllige Frau in einer Nerzstola flötete vergnügt: »Juhu, Artur, juhu, hier sind wir!« Hier sind wir, dachte er, und die Tränen strömten ihm über die Wangen.
    Er weinte um sich selbst, nahm er an, und er weinte um all die Toten in der Welt, die nie wieder die Wärme einer menschlichen Umarmung spüren würden, nie die Berührung

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