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Schock

Titel: Schock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hunter Evan
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grüßender Lippen auf ihren Wangen, all die Toten, denen nie wieder eine füllige Frau in einer Nerzstola entgegenrief: »Juhu, hier sind wir!« In diesem Moment war er nahe daran, die Wahrheit über sich selbst zu erfassen. Krampfhaft pumpte er Luft in seine Lungen, in seinen Körper – Parfum, Sauerstoff, Kohlenmonoxyd, Dieselqualm, Körpergerüche, den Dunst des Flusses, eine Spur Whisky – der Lärm des Lebens brandete ihm von allen Seiten entgegen, und plötzlich wünschte er sich, wieder in dieses Leben einzutreten, es an sich zu pressen; und dies war der Augenblick, in dem die Maskerade nahezu in sich zusammenfiel. Fast hätte sich sein Name in seinem Kopf, auf seiner Zunge materialisiert. Fast wußte er, wer er war und wie es gekommen war, daß er in der Frühe im Park erwacht war. Vielleicht noch ein weiterer Moment, noch fünf Sekunden, und dieses Wissen wäre frei und klar an den Tag getreten, wäre aus seinem Versteck hervorgebrochen. Dann hätte er es gewußt.
    Ein Ausdruck starrer Erwartung mußte sich über sein Gesicht gebreitet haben. Plötzlich hielt er den Atem an, als fürchtete er, die Wahrheit, auf der Grenze seines Bewusstseins, so knapp im Gleichgewicht, könnte beim kleinsten Atemzug wieder in den Abgrund hinabstürzen. Er wartete gespannt; er fürchtete die Wahrheit und war dennoch bereit, sie zu begrüßen, wie überall ringsum zurückkehrende Schiffsgäste begrüßt wurden; er sehnte sich danach, wieder zu ihnen zu gehören, wünschte verzweifelt, zurückkehren zu können – es war da, es würde kommen, in jedem Augenblick, er wußte es, er wußte es genau; er wartete mit zusammengebissenen Zähnen, und die Tränen rannen ihm über das Gesicht.
    Und dann sah er Grace.
    Einen Augenblick lang dachte er: nein, ich sehe sie nicht wirklich, ich fürchte mich nur vor der Wahrheit. Doch dann pochte sein Herz, er erkannte sie wieder und eilte auf sie zu. Das ist nicht Grace, dachte er, erinnerst du dich nicht, willst du dich nicht erinnern? Er eilte auf sie zu; sie drängte sich durch die Menge, zusammen mit einer Gruppe von Leuten, die einem jungen Mann, der mit seinem Gepäck einem Taxi zustrebte, lachend den Rücken klopften. Buddwing hätte ihr beinahe nachgeschrien. Nein, warte, sagte er sich, hör zu. Mach dir die Lage klar. Mach sie dir jetzt klar. Er zögerte.
    Sie hatten den jungen Mann im Taxi verstaut, zwei weitere Mädchen und ein junger Mann stiegen mit ein. Das Taxi rollte an; Grace und fünf andere blieben auf der Landungsbrücke. Er bemerkte, daß sie ein wenig abseits von dieser Gruppe stand, als gehöre sie nicht wirklich dazu. Ein weiteres Taxi fuhr vor. Buddwing erwartete, daß sie alle einsteigen würden, erwartete, daß Grace davonfahren und ihn mit diesem hartnäckigen, schreienden, halberfaßten Wissen, das ihm den Schädel zu sprengen drohte, zurücklassen würde, mit diesem Wissen und lumpigen dreißig Cents – nicht genug, ihr zu folgen.
    Das Taxi fuhr an. Grace stand noch auf der Brücke, neben einem jungen Mann in einem Tweedjackett. Der junge Mann nahm ihren Arm. Sie gingen zu Fuß davon.
    Wer konnte es sein, wenn nicht sie? Er folgte ihnen.
    Hinter sich hörte er ein kleines Mädchen sagen: »Daddy, der Mann da weint.«

12
    Sie sah fast aus wie immer, ja, ein wenig schlanker vielleicht, das blonde Haar ein wenig kürzer, doch es war Grace, ja, und er fühlte ein überwältigendes Gefühl des Friedens in sich aufsteigen, als er ihr und dem jungen Mann zu folgen begann. Wohin sie auch gingen, sie schienen es nicht besonders eilig zu haben; vermutlich hatten sie deshalb auch kein Taxi genommen. Sie schlenderten müßig dahin, genossen den milden Frühlingsabend, plauderten, lachten gelegentlich, ihr Lachen flatterte zu ihm hinüber; er folgte ihnen in einiger Entfernung.
    Die Anwesenheit des jungen Mannes irritierte ihn nicht, obwohl er das Gefühl hatte, daß sie ihn im Grunde irritieren sollte. Er beobachtete sie, während sie dahingingen, und alles schien auf die gleiche Art seine Richtigkeit zu haben, wie er es im Washington Square Park empfunden hatte; die Situation schien auf eine Weise korrekt, daß sie den jungen Mann, der ihren Arm genommen hatte, fast selbstverständlich einschloss. Wenn er Grace und den jungen Mann beobachtete, hatte er das seltsame Gefühl, sich selbst zu beobachten; ihm war, als plaudere sie mit ihm, Buddwing; als wendete sie dann und wann den Kopf, um über etwas zu lachen, das er gesagt hatte; als wäre es in Wirklichkeit nicht

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