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Schock

Titel: Schock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hunter Evan
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glühenden Augen an Buddwing herandrängte. Einen Augenblick lang sah Buddwing den irren alten Mann, der sich für Gott hielt, und den schizophrenen Paranoiker namens Edward Vossler als ein Paar, in einen widersinnigen Dialog verwickelt, der mit der Wirklichkeit nichts zu schaffen hatte. Doch dann, dem Wahnsinn so dicht gegenüber, Auge in Auge mit dem Wahnsinn, den Ärmel im Krallengriff des Wahnsinns, wußte er plötzlich: dieser Mann war nicht sein Bruder. Und gleichzeitig entschied sich für ihn mit letzter Gewissheit, daß er nicht Edward Vossler war.
    Der alte Mann redete noch immer; er flehte und drohte, schmeichelte und fluchte. Er beschwor Bilder des Himmels und der Hölle, der Sünde und der Erlösung; doch Buddwing hörte nur mit halbem Ohr zu, überwältigt von einem Gefühl ungeheuerlicher Erleichterung: er war nicht Edward Vossler, er war nicht wahnsinnig. Und weil er in diesem Gedanken lebte, seit er am Vormittag, zehn Minuten nach neun, zum ersten Mal die Schlagzeile vor der Milchbar an der Siebenundsechzigsten Straße gesehen hatte, weil dieser Gedanke in ihm gewachsen war, sich zu einem Bild verdichtet hatte, auf das er zurückgreifen konnte, wenn alle andere Hoffnung auf Identität ihn verließ, stand er nun, unfähig zu denken, der Wahrheit gegenüber und wünschte fast, sie für Unwahrheit halten zu können. Er wünschte sich, irgendwer zu sein, sei es auch nur Edward Vossler, ein armer, wirrer Wahnsinniger, der den Anzug eines Direktors gestohlen hatte und entwichen war. Er wünschte sich, irgendwer zu sein – nein, nicht nur irgendwer, er wünschte eine bestimmte Identität.
    »Hör auf Gott«, redete der alte Mann. »Hör auf die Stimme Gottes, denn er wird dich auf eine grüne Wiese führen …«
    »Hören Sie zu«, sagte Buddwing.
    »Hör auf Gott.«
    »Nein! Sie hören jetzt auf mich! Ich bin jemand, ist das klar?«
    »Sie sind Edward Vossler, und ich …«
    »Nein, ich bin ich, und Sie sind irgendein Verrückter, der glaubt, sich in mir wieder zu erkennen. Aber ich bin nicht Edward Vossler, und ich bin auch nicht verrückt. Ich bin ich! Ist das klar? Und ich bin es satt, daß die Leute mich von oben bis unten mustern und nur sich selber sehen! Von nun an werden sie mich anschauen und entweder mich sehen oder überhaupt nichts! Nichts! Und jetzt scheren Sie sich zum Teufel, bevor ich dem Polizisten dort an der Ecke erzähle, daß Sie Gott sind. Los, los, verschwinden Sie!«
    »Wenn Sie ihm erzählen, daß ich Gott bin, erzähle ich ihm, daß Sie Edward Vossler sind«, sagte der alte Mann verschlagen.
    »Schön, vielleicht glaubt er uns beiden und nimmt uns beide fest. Wäre Ihnen das etwa recht?«
    »Sie treiben Ihren Spott mit dem Allmächtigen, Sie verdammter Narr!« sagte der alte Mann plötzlich.
    »Gott sollte nicht fluchen«, lächelte Buddwing.
    Der alte Mann starrte ihn an, in seinen Augen funkelte irre Bosheit, seine Hand krampfte sich um die erloschene Pfeife. Ohne jedes Warnzeichen drehte er sich zu dem Polizisten an der Ecke um und schrie: »Hilfe! Dieser Mann ist Edward Vossler, der verrückte Ausbrecher von Central Islip!«
    Zwei Schrecksekunden lang begriff Buddwing nicht, daß der alte Mann seine Drohung wahrgemacht hatte. Dann sah er, wie sich der Polizist langsam zu ihnen umwandte, und hörte den alten Mann abermals schreien: »Hilfe, Hilfe! Ein Verrückter! Hilfe!« Und zum ersten Mal seit seinem Erwachen wußte er, was Panik war.
    Er rannte blindlings.
    Er rannte der Sonne entgegen, westwärts, setzte sie sich zum Ziel, wollte sie erreichen, bevor sie in den Fluss hinabsank. Hinter sich hörte er den alten Mann und den Polizisten rufen, einstimmig, doch er rannte der Sonne nach – wenn er sie nur erreichte, bevor sie versank, war alles in Ordnung. Die Rufe hinter ihm wurden leiser; vielleicht übertönte sie auch nur das Geräusch seines eigenen keuchenden Atems. Im Laufen dachte er, wie merkwürdig es war – saß man auf einer Parkbank und kümmerte sich um seine eigenen Dinge, dann kam ein Polizist auf einen zu und fragte nach dem Ausweis; raste man aber durch die Straßen, wie ein Dieb der Sonne nachrennend, weil man sie erreichen wollte, bevor sie verschwand, dann gönnte einem niemand mehr als einen Seitenblick. Er lächelte und lief weiter. Er spürte, wie seine Füße kraftvoll das Pflaster hämmerten, fühlte jeden Schritt als Pumpen der Muskeln in Schenkeln und Waden, Atemzug nach Atemzug – er fühlte die heiße Luft in Kehle und Lungen, fühlte die

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