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Schockgefroren

Schockgefroren

Titel: Schockgefroren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Buzmann
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ich.
    Dann geht alles ganz schnell. Adam G. springt auf. Die Ratte rennt quer durch den Wohnwagen auf das Bett zu, und er tritt nach ihr. Er ist schnell. Er ist gefährlich schnell. Häufig macht er einen lahmen, abgestumpften Eindruck, doch wenn es ihn überkommt, ist er schnell. Er versucht, die Ratte zu zertreten, einmal, zweimal, aber sie schlägt Haken, er verfehlt sie. Die Ratte saust unter den Tisch, wo die ganzen Abfälle liegen, und Adam G. nimmt einen Stock und stochert darin herum. Die ganze Zeit kauere ich auf dem Bett mit einem wachsenden Gefühl des Entsetzens. Ich will die Ratte nicht hier haben, aber ich will auch nicht, dass er sie unter seinen Schuhen zertritt. Jetzt taucht sie auf, ihr Kopf erscheint zwischen einem Lumpen und ein paar zerbrochenen Holzstücken. Adam G. schlägt mit dem Stock darauf. Die Ratte quietscht und kommt aus ihrem Versteck hervor. Wieder läuft sie quer durch den Wohnwagen, aber etwas in ihr scheint verletzt zu sein, immer wieder taumelt sie und fällt auf die Seite. Dann rappelt sie sich auf und versucht, zur Tür zu kommen. Adam G. hebt den Stock und schlägt zu. Die Ratte gibt ein Geräusch von sich, es klingt wie Wimmern. Sie drückt sich an der Tür entlang, aber schafft es nicht unterm Spalt durch. Adam G. hebt seinen Fuß und tritt zu. Ich höre ein hässliches Geräusch, wie wenn etwas zerplatzt, und sehe, wie er nochmals zutritt und nochmals. Dann ist da, wo die Ratte war, etwas, das wie der Kadaver aussieht. Es scheint noch zu leben; es zuckt, und ich schaffe es nicht, meine Augen abzuwenden. Adam G. kümmert sich nicht darum. Er wendet sich ab, geht zum Tisch mit den Abfällen darunter, kniet auf den Boden. Seine Hände suchen etwas. Auf einmal zieht er eine Flasche Bier hervor, schlägt den Kronkorken an der Tischkante ab und setzt an. Er macht die halbe Flasche leer, dreht sich zu mir um und stiert mich mit kalten, grauen Augen an.
    »Kein Grund zum Schreien«, sagt er. »Ich will nicht, dass du schreist. Fang ja nicht nochmals damit an. Keiner darf dich hören, kapierst du das? Keiner.«
    Er sagt es leise, und wenn er so redet, bekomme ich es noch mehr mit der Angst zu tun. Ich presse ein »Ja« hervor. Ich werde nicht mehr schreien, nie mehr, und wenn eine ganze Armee Ratten in den Wohnwagen kommt. Meine Augen wandern zu der zertretenen Ratte, sie zuckt noch immer, ist noch nicht tot. Dann pflanzt sich Adam G. vor mir auf. Er trinkt aus der Flasche. Aus seinem Bart tropft Bier. Steht er so vor mir, will er immer das eine. Das ich nicht möchte, was ihn aber nicht stört, er wird es sich trotzdem nehmen. Er kann mich zertreten wie die Ratte. Adam G. macht seine Hose auf, und ich weiß, ich werde enden wie sie.

Ich habe einen Satz aufgeschrieben, der floss aus mir, ich konnte ihn gar nicht verhindern: »Damit habe ich mir mein Leben erkauft«, steht da. Ich weiß, es ist die Wahrheit, aber jetzt, als ich ihn lese, kommt es mir vor, als grinse aus ihm das Gesicht von Adam G. Langsam lösche ich ihn wieder, Buchstabe für Buchstabe.
    Damit habe ich mir mein Leben erkauft.
    Damit habe ich mir mein Leben
    Damit habe ich
    Damit
    Damit beschließe ich, mit der Sache aufzuhören. Keine Erinnerungen mehr. Keine Aufschriebe mehr. Die Frau werde ich auch nicht anrufen. Der »Ort des Geschehens« wird mich nie mehr zu Gesicht bekommen. An meine Tür kommt ein Schild: Reporter? Nein danke. Das gilt auch für Regisseurinnen. Es ist aus und vorbei; vorbei, vorbei, vorbei. Und ich muss hier weg. Raus aus der Wohnung, raus aus der Stadt, am besten nach Österreich. Oder noch weiter.
    Damit habe ich mir mein Leben erkauft – nein, ich will von alldem nichts mehr wissen.
    Ich will einfach nur meinen Frieden.

Adam G. liegt dicht neben mir.
Er schläft nicht, sondern sieht mich unentwegt an. Ich weiß nicht, wann er mir gefährlicher erscheint: wenn er schreit und in die Luft boxt? Oder wenn er still ist? Noch immer schwebt seine Frage in der Luft, ob ich sein Freund sein will. Ich habe sie nicht beantwortet. Ich will sie nicht beantworten. Ich weiß über diese Frage bestens Bescheid, denn sie wird häufig unter meinen Spielkameraden gestellt: »Willst du mein Freund sein?«, fragen wir uns, weil die Antwort bedeutet: Wenn ja, gehörst du dazu. Wenn nein, mach die Flatter. Ich will nicht zu Adam G. gehören. Er hat nichts getan, womit er sich meine Freundschaft verdient hätte, im Gegenteil. Was er mit mir anstellt, macht ihn nicht zu meinem Freund.
    Als Neunjähriger versteht

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