Schockgefroren
man einiges von Freundschaft, und man versteht auch einiges von Feindschaft. Mit meinen Freunden bilde ich eine Bande; uns gehört das Gebiet am unteren Wickerbach sowie an den ersten Häusern der Gartenkolonie. Dort kann es sein, dass wir auf eine Nachbarbande stoßen, deren Jagdgründe sich bis zur Grenze der Kolonie erstrecken. Wir passen genau auf, dass wir uns nicht allzu häufig ins Gehege kommen. Doch wenn es sein muss – und es muss immer wieder mal sein – klopfen wir uns. Wir haben genaue Spielregeln, wie das zu geschehen hat, und wir halten uns alle daran. Wir klopfen uns mit unseren Holzschwertern und Pfeil und Bogen und Steinschleudern, und es kann sein, dass sich dabei einer eine blutige Nase holt. Das ist nicht die Regel, denn es ist nicht gewollt. Wir »catchen« miteinander; das ist eine Form von Ringkampf, bei dem der gewinnt, der den Gegner in den Schwitzkasten zwingt. Wer im Schwitzkasten ist, hat verloren und zeigt es an, indem er laut sagt, ich gebe auf. Dann lässt der Sieger den Besiegten sofort los. Alle in der Bande kennen die Regeln, und alle in der Nachbarbande ebenfalls. Weil wir darüber sprechen. Wir streiten sogar darüber. Aber wir halten uns daran, weil wir wissen, dass unser Spiel zu Ende ist, wenn einer aus der Reihe tanzt.
Was Adam G. tut, ist kein Spiel.
Wie also kann so einer mein Freund werden?
Aber ich muss wie ein Erwachsener denken, darf nicht mehr wie ein Kind denken. Daher frage ich mich: Haben Erwachsene andere Regeln? Ich weiß nicht, ob mein Papa einer Bande angehört, jedenfalls ist davon nie die Rede. Er hat Freunde, die immer wieder ins Haus kommen und mit denen wir Ausflüge machen. Sie necken sich und machen Witze, die ich nicht kapiere. Doch sie verstehen sich gut, niemals fällt ein böses Wort. Das ist bei uns Kindern anders. Wir sagen Blödian zueinander oder Dummsack und Stinkstiefel, ohne dass jemand eingeschnappt ist. Wir sagen das nur im Spaß, weil es darum geht, bessere Schimpfworte zu kennen, weil es darum geht, schneller zu laufen und höher zu springen und den Stein weiter zu werfen. Dann kann man sagen, hast du’s gesehen, Dumpfbacke, wie weit der geflogen ist? Wir lachen und rufen: selbst Dumpfbacke, selbst Arschgeige, weil wir wissen, dass alles nett gemeint ist.
Wir sind nett zueinander, aber Adam G. ist nicht nett.
Ich glaube inzwischen, Adam G. weiß gar nicht, was »nett« bedeutet. Einer, der nicht nett ist, kann doch niemals mein Freund sein? Doch jetzt habe ich schon wieder wie ein Kind gedacht. Ich muss versuchen, wie Papa zu denken. Kann Papa mit einem befreundet sein, der nicht nett zu ihm ist? Alle seine Freunde sind nett, zumindest kommt mir das so vor. Wenn sie zu uns nach Hause kommen oder wir zusammen Ausflüge machen, sind sie nett. Also kann Adam G. auch niemals der Freund von Papa sein.
Adam G. ist nicht nett, deshalb hat er keine Freunde. Weil das so ist, komme ich zu dem Schluss, dass er auch nicht mein Freund sein kann. Es ist ganz und gar unmöglich, egal, ob ich wie ein Kind oder wie ein Erwachsener darüber nachdenke.
Aber da ist noch etwas anderes. Immer wieder drängt sich ein Gedanke vor, der kein richtiger Gedanke ist. Weil ich ihn nicht denke, sondern fühle. Nein, es ist kein Gedanke. Es ist ein Gefühl.
Dieses Gefühl sagt mir, es ist gesünder für dich, du wirst sein Freund. Wenn du weiterleben willst, solltest du mit der Antwort nicht mehr allzu lange warten.
Oh ja, ich will weiterleben!
Ich will leben!
Jeden Tag will ich mehr leben! Seit die Ratte auftauchte, ist mein Wunsch, zu überleben, noch größer geworden. Weil ich nicht aufgefressen werden möchte. Weil ich nicht will, dass sie mir Finger und Zehen und Nase abbeißt. Und weil das alles so ist, denke ich nicht mehr länger darüber nach. Gerade hat Adam G. mir wieder schrecklich wehgetan, und trotzdem sage ich zu ihm: »Ich will dein Freund sein.«
Da überzieht ein großes Lachen sein Gesicht. »Und wie heiße ich als dein Freund?«, fragt er.
Für einen Moment bin ich verwirrt. Dann fällt mir ein, was er hören will. »Adi«, sage ich. »Du heißt Adi.«
Er strahlt. »Genau«, sagt er. »Ich bin Adi.«
Er greift nach mir, drückt seinen Mund auf meinen, lässt mich wieder los. »Weißt du«, sagt er, »ich hatte noch nie einen Freund.«
Ich hänge am Telefon und klappere Hotels und Restaurants ab. Normalerweise habe ich immer in null komma nichts einen neuen Job am Start, aber ausgerechnet jetzt, wo ich einen brauche, zucken alle mit
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