Schockgefroren
der Bundeswehrarzt wissen, als ich ihm meine Narben zeige.
Tja, jetzt müsste ich ihm eigentlich von Erdogan erzählen, schätze ich. Meinem guten Kumpel Erdogan. Ich habe auf einmal eine Menge türkischer Freunde. Irgendwie passt die Chemie zwischen uns, und sie machen mich zum Mann. Davor bin ich nur ein Weichei. Ich kann mich nicht wehren, obwohl ich seit Jahren Judo übe. Ich bin nie frech. Ich bin höflich und zuvorkommend, widerspreche niemals. Dann treffe ich Erdogan am Spielplatz, genau an der Stelle, wo vor ein paar Jahren ein Schatten … Ach was, vergiss das. Ich bin sechzehn Jahre alt, und Erdogan ist fünf Jahre älter. Wenn ich mit ihm und seinen Kumpels zusammenstehe, stoßen auch Anna und Britta dazu, die sonst immer weitergehen, wenn ich alleine bin. Auch Arslan stößt zu uns, der hat gerade seinen Führerschein gemacht. Erdogan sagt: »Alter, wie wär’s mit einer Spritztour?« Er bestimmt, wo’s langgeht, aber irgendwie mag er es, wenn ich mit von der Partie bin. Er nennt mich seinen Freund. Das ist für mich von Vorteil: Zieht am Horizont Ärger auf – und seit ich mir vor einem halben Jahr den ersten Joint gedreht habe und das Zeug irgendwoher kriegen muss, zieht ständig Ärger auf –, sage ich: Verzieh dich, Sackgesicht, sonst haut dich Erdogan um. Ungespitzt in den Boden haut der dich, und das kannste kriegen, so oft du willst. Doch heute haut Erdogan keinen um, heute will er eine Spritztour machen, und er sagt: »Auf geht’s, Arslan, lass die Karre rennen.« Er sitzt hinten zwischen Anna und Britta, ich vorne auf dem Beifahrersitz, und wir lachen alle, weil Aslan wie eine Schnecke fährt, an jeder Kreuzung ewig wartet, bis er sich rübertraut, beim Abbiegen fast anhält. Irgendwann hält es Erdogan nicht mehr aus. Er sagt: »Mann, Alter, lass den Meister ran.« Das gefällt mir, weil Erdogan ein kleiner Heizer ist. Er mag es, wenn die Karre über die Landstraße fliegt, und ich mag das auch.
»Wohin fahren wir?«, fragt er mich, und ich antworte: »Wie wäre es mit Hochheim, Billard spielen?«
»Schon unterwegs«, sagt Erdogan und lässt den Bleifuß ran. Der Bleifuß beschleunigt den Wagen auf hundert Stundenkilometer, und ich lache und sage: »Vielleicht solltest du dich anschnallen, Alter.« Ich drehe mir einen Joint, als eine Kurve vor uns auftaucht. Vor der Kurve ist ein kleiner Seitenweg, aus dem zuckelt ein LKW auf die Straße. Erdogan brüllt noch: »Was macht der Arsch dort?«, da kracht’s auch schon. In voller Fahrt rauschen wir in den Anhänger. Ich sehe nichts mehr, höre nur noch, habe den seltsamen Gedanken: Das sind Geräusche, die kriegt man nur mit, wenn alles kaputtgeht.
Als ich wach werde, liege ich in einem Bett. Ich kann mich nicht bewegen, aber mir ist klar, es muss ein Krankenhaus sein. Warum ich hier bin, weiß ich nicht. Über mir taucht das Gesicht meiner Schwester Doris auf. Auch meine Mutter, mein Vater, Jenny und mein Bruder sind da.
»Was ist los?«, frage ich. Das Sprechen tut weh. »Habe ich mich geschlagen?«
Meine Familie druckst herum. Dann flüstert Doris: »Wir müssen es ihm sagen.«
»Was müsst ihr mir sagen?«
»Es ist was mit deinem Gesicht …«
Das Blut stockt mir in den Adern. Ich fahre auf und bemerke, dass ich mich doch bewegen kann. So schlimm kann’s nicht sein, obwohl überall an mir Schläuche befestigt sind. Ich will einen Spiegel, will in einen Spiegel sehen, und endlich hält man einen vor mich hin. Ich fange an zu schreien. Es ist das Gesicht von Frankenstein, das mir entgegenblickt. Ich bin entstellt. Das ist das Ende.
Irgendwann ist die Familie weg. Ich will keinen Besuch mehr und nichts vom Unfall hören. Aber das geht nicht. Schließlich bin ich nicht der Einzige, den es erwischt hat. Auch wenn ich aussehe, als ob mich ein Tiger in die Klauen gekriegt hat, und ich mir sicher bin, dass ich mit diesem Gesicht nie eine Freundin kriegen werde, ist es nichts gegen Erdogans Schicksal. Der Stahlaufhänger des LKWs ging wie ein Geschoss durchs Auto und erwischte ihn voll. Noch liegt er mit einem Schädeltrauma im Koma. Auch die anderen haben einiges abbekommen: Annas Kiefer ist zerschmettert, sie hat alle Zähne verloren. Aslan hat sich den Arm gebrochen. Britta hatte am meisten Glück mit ihren Schnitt- und Schürfverletzungen. Bei mir ist das Handgelenk futsch, und ich werde einen Monat lang nicht gehen können, weil die Bänder in den Knien was abbekommen haben. Das Schlimmste aber sind die Gesichtsverletzungen: Weil
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