Schockgefroren
Aussage. Doch die ruhige Arbeit des Regisseurs hilft darüber weg. Deshalb sage ich »Ja«, als er ein Experiment vorschlägt. Weil die Linie 25 abgeschafft wurde, will er einen Omnibus chartern. Der soll die Strecke unter die Räder nehmen, mit mir darin, auf demselben Platz wie damals. Das wird meinen Erinnerungen auf die Sprünge helfen, hofft der Regisseur. Nur er und ein Kameramann werden dabei sein.
Am Abend, als der Bus vorfährt, kann ich meine Nervosität kaum zügeln. Es liegt kein Schnee wie vor 25 Jahren, schließlich ist fast April, und Frühling liegt in der Luft. Trotzdem fühle ich mich wie der neunjährige Junge von damals. Oben am Bus steht »25 Delkenheim Freiburger Str.«.
»Als hätte sich nichts geändert«, sage ich zum Regisseur. Er lächelt. Wir suchen mithilfe des Plans, den die Ermittler vor einem Vierteljahrhundert anfertigten, meinen Platz. Ich setze mich. Der Bus fährt los. Ich schaue zum Fenster hinaus und denke, na ja, einiges ist schon anders: mehr Autos, größere Geschäfte, vor allem ist alles viel heller erleuchtet. Sobald wir die Stadt hinter uns lassen und über Land fahren, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich doch nicht allzu viel geändert hat. Die Schatten der Nacht sind immer noch gleich dunkel.
»Wie war das damals im Bus?«, höre ich die Stimme des Regisseurs.
»Na ja«, sage ich. »Die Stimmung war sehr locker. Mit der Freundin meiner Schwester habe ich mich köstlich amüsiert. Das war sehr schön.«
Ich mache eine Pause und überlege. »Der Mann saß schräg gegenüber. Ich erinnere mich, dass er geschaut hat und wir ihn auch angeschaut haben; ich habe das aber nicht weiter registriert. Ich habe nie erfahren, warum Adam G. mit mir in den Bus eingestiegen ist. Ich war wohl wirklich zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort.«
Zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort.
So habe ich das bisher nie ausgedrückt. Ist das die Antwort auf die Frage: Warum ich? Darüber habe ich während der Gefangenschaft nachgegrübelt und später immer wieder. Doch wenn es tatsächlich etwas gab, das mich haben wollte, war ich nicht zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. Doch ist es schwierig, sich nach 25 Jahren über solche Dinge klar zu werden. Einiges von dem, was ich im Film sage, liegt auf der Hand: »Dann wollte Adam G. gleich irgendwelche sexuelle Sachen mit mir machen. Das war für mich ein Schock. Da habe ich mich auch gewehrt, und er hat mich geschlagen.« Bei anderen Aussagen fällt mir hinterher ein, dass es sich vielleicht doch etwas anders zugetragen hat. Im Film sage ich, nach unserer Ankunft im Wohnwagen »hat er mich zuerst ein wenig in Ruhe gelassen, mich aufwärmen lassen, sozusagen«. Mittlerweile weiß ich, diese Zeit gönnte er mir nicht.
Ich bin froh, als das Experiment zu Ende geht. Ich bin sogar froh, dass es die Linie 25 nicht mehr gibt, auch wenn ihr sicher manche Leute nachtrauern. Die Erinnerungen zeigen einem die schwarzen Löcher im Bewusstsein; sie weisen auf Orte, an die man nicht mehr zurückkehren möchte.
Dazu gehört auch der Ort des Geschehens: Nun bin ich drei Mal hier gewesen. Ein viertes Mal brauche ich nicht. Möge er in Frieden ruhen. Oder einfach nur weiter vor sich hin gammeln.
»Die haben vielleicht den Arsch auf«,
schimpft Adam G., als er mich aus dem Spalt zieht. »Echt meilenweit haben die den Arsch auf. Jetzt soll man dafür auch noch blechen. Für alles soll man mittlerweile blechen.«
Meine Beine knicken ein, sobald ich nicht mehr zwischen den Wänden feststecke. Dieses Mal war er so lange weggeblieben wie nie zuvor. Zweimal wurde mir schwarz vor Augen, weil ich im Spalt nicht wie in der Kiste schlafen kann. Adam G. stinkt nach Alkohol. Er hört nicht auf zu schimpfen. In mir verkrampft sich alles, weil ich weiß, was das bedeutet.
»Wie schnell kannst du rennen?«, fragt er auf einmal. Ich bin so überrascht, dass ich eine Zeit lang brauche, mir die Antwort zurechtzulegen. Wenn Adam G. am Schimpfen ist, will er normalerweise nicht von mir wissen, wie schnell ich rennen kann. Dann will er immer nur eines. Aber jetzt fährt es mir durch den Kopf: schnell, sehr schnell. Ich habe mein Leben rennend verbracht, du Scheusal. Auch wenn ich nicht mehr weiß, ob ich noch immer schnell laufen kann. Vor allem nicht nach den endlosen Stunden im Spalt.
Adam G. kichert plötzlich: »Ich kann schnell rennen«, sagt er. »So schnell, wie ich rennen kann, konnten die gar nicht glotzen.«
Er wirft mich aufs Bett. Es ist wieder
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