Schockgefroren
einmal möchte ich SCHREIEN VOR WUT – doch dann beherrsche ich mich. Nicht hier, nicht im Büro der Filmproduktion, nicht vor dem Regisseur.
Doch ich schreie auch nicht, als ich zwei Stunden später zuhause bin. Nur eines weiß ich: Es muss ein Buch geben, in dem ich erzählen kann, was in keinem Zeitungsartikel steht und in keinem Film gezeigt werden kann. Es muss ein Buch geben, in dem steht, wie ich es erlebt habe, und nicht, wie Professoren es analysierten. Es muss ein Buch geben, in dem ich schreien kann, wenn mir danach zumute ist.
Adam G. sagt: »Der Scheißkerl hat den Braten gerochen.
Wenn er nochmal auftaucht, gibt’s was auf die Nüsse. Du gehörst mir allein. Ich teile dich nicht.«
Ich habe keine Ahnung, von was er spricht, aber die Art und Weise, wie er es sagt, macht mir Angst. Adam G. ist aufgeregt. Wie ein gefangenes Tier läuft er im Wohnwagen auf und ab. Ich versuche, ihn zu beruhigen. »Sollen wir Dinosaurier malen?«, frage ich, aber er reagiert nicht. »Vielleicht kommt etwas im Fernsehen?« Fernsehen funktioniert eigentlich immer; ich habe das Gefühl, dass Adam G. mittlerweile lieber Fernsehen schaut als ich. Doch er will auch nicht fernsehen. Er will, was er schon längere Zeit nicht mehr wollte. Mit einer Hand packt er mich, mit der anderen öffnet er seine Hose.
»Du gehörst mir«, wiederholt er. »Ich teile dich mit keinem.«
Als es vorbei ist, bin ich ein paar Stunden wie gelähmt. Ich habe schon daran geglaubt, dass es mir gelungen ist, Adam G. die schlimmen Dinge vergessen zu lassen. Wenn wir Dinos malen und fernsehen, wenn er von früher erzählt oder eine Dose Ravioli aufmacht, habe ich geglaubt, das Schlimmste sei überstanden. Doch jetzt merke ich, dass ich mich auf nichts verlassen kann. Im Wohnwagen von Adam G. kann mir jederzeit alles passieren.
Ich fange wieder bei null an. Mir kommen die Tränen, als ich daran denke, und deshalb schimpft Adam G. Jetzt kann ich sie noch weniger zurückhalten. Er droht mir.
Entweder.
Oder.
Ich heule richtig los, und er schlägt mich.
»Ich hab’s dir gesagt!«, schreit er. »Ich hab’s dir gesagt!«
Ganz fest beiße ich die Zähne aufeinander, und das hilft, das Schluchzen zu unterdrücken. Ein Gedanke durchzuckt meinen Kopf: Ich will sterben. Ich will nicht mehr weiterleben. Nicht so. Nicht hier. Ich will nicht länger bei Adam G. sein, ich will weit weg von ihm sein, und wenn ich nicht gehen darf, will ich auch nicht mehr leben.
Ich will sterben.
Ich will tot sein.
Lieber heute als morgen.
Wir sind an den Ort des Geschehens zurückgekehrt. Mittlerweile komme ich mir nicht mehr vor wie ein Fremdenführer, dessen Job es ist, einen Fremden über das Gelände zu führen, der ich selbst bin. Ich habe in den letzten Monaten zu viel über mich erfahren.
»Da alles weg ist«, spreche ich in die Kamera und meine damit den verschwundenen Wohnwagen, »denke ich, so sieht es auch in mir aus.« Wahrscheinlich hätte ich besser gesagt: So sah es auch in mir aus. In der Zwischenzeit hat sich etwas geändert. Der Junge, dessen Entführung für einen traurigen Rekord in der deutschen Kriminalgeschichte sorgte, hat seine Erinnerung wiedergefunden. Jetzt muss er nur noch seine Sprache finden. In diesem Film beginne ich damit.
»Was hier passiert ist«, sage ich, »ist schon sehr schlecht gewesen. Wenn man sich überlegt, die ersten Tage hat er mich nur geschlagen und vergewaltigt, der hat mich überhaupt nicht als Menschen wahrgenommen.«
Vor ein paar Wochen hätte ich das nicht sagen können. Später, als der Film fertiggestellt ist, fällt mir auf, dass ich auch zum ersten Mal über meine Angst spreche.
Ich sage: »Der Entführer war sehr introvertiert, sehr crazy. Er hat laute Selbstgespräche geführt oder in die Luft geschlagen. Ich hatte sehr große Angst, Widerworte zu geben oder irgendwas zu machen, was ihm nicht gefällt. Der Ort war verdreckt, es war ihm egal, er war ja auch so ein dreckiger Typ. Keine Toilette, kein fließendes Wasser. Die sexuellen Misshandlungen waren das Schlimmste. Man verliert sich. Man nimmt das hin, so wie es ist.«
Und noch etwas fällt mir auf: wie ich in die dritte Person wechsle: Man verliert sich. Man nimmt das hin. Dabei war ich es, der sich verlor. Ich war es, der alles hinnehmen musste, weil ein neunjähriger Junge gegen einen erwachsenen Mann keine Chance hat. Auch wenn es sich bei diesem Mann anscheinend nur um einen minderschweren Fall handelt.
Immer wieder ärgere ich mich über diese dumme
Weitere Kostenlose Bücher