Schockgefroren
miteinander und lassen alte Zeiten aufleben.
»Weißt du noch?«, fragt Nicole. »Deine Schwester Jenny hat mit ihrer Freundin Gummihüpfen gespielt. Du warst auch dabei, aber noch zu klein dazu. Und ich ebenfalls. Da haben wir uns ein eigenes Spiel ausgedacht, und Jenny sagte zu ihrer Freundin: »Jetzt hat der Sascha eine Freundin.« Aber dann bist du vor mir eingeschult worden, und wir haben uns nicht mehr so häufig getroffen.«
Erst in der vierten Klasse wieder. Da wurde ein neunjähriger Junge entführt, geschunden und misshandelt und musste deshalb das Jahr wiederholen. Und wer saß in der neuen Klasse? Nicole.
Für einen Augenblick schweigt sie betroffen, als das aus mir rausplatzt. Doch sie fängt sich wieder.
»Dabei hat man dir nichts angemerkt, aber auch rein gar nichts. Ich weiß noch, wie es war, als die Lehrerin verkündete, wir kriegen einen neuen Schüler, und der heißt Sascha Buzmann. Da sind alle Kinder aufgesprungen und haben sich gefreut. Welcher Sascha? Ja, der Sascha! Ich habe gerufen, den kenn ich, den kenn ich, der wohnt neben mir!«
Nicoles Erinnerungen wecken welche bei mir. »Ich fand’s furchtbar«, sage ich. »Ich habe das gemerkt, die Blicke und ›das ist er‹, und ›kuck mal, wer da kommt‹ und habe mich furchtbar geschämt. Ich habe immer geglaubt, die wissen davon . Wie kann es sein, habe ich mich gefragt, ich habe doch davon nichts erzählt? Stand das in der Zeitung? Was passiert, wenn sie mich fragen ?«
»Es hat aber keiner gefragt, oder?«
»Ich glaube nicht. Kann mich jedenfalls nicht erinnern. Dafür weiß ich noch, dass ich mich gerne neben dich gesetzt hätte, weil ich dich kannte. Die Lehrerin meinte aber, ich sei vorne am besten aufgehoben.«
»Wo dich jeder sehen konnte.«
»Wo mich jeder sehen konnte. Tja, und dann haben wir uns trotzdem angefreundet.«
Wieder lacht Nicole. »Kann man wohl sagen. Das erste Küsschen gab’s hinter den Mülltonnen bei eurem Haus.«
»Und dann …«, sage ich, aber ich spreche nicht weiter. Weil passierte, was immer passiert: Ein paar Jahre später gingen wir miteinander und verbrachten eine schöne Zeit. Dann wollte sie mehr, aber ich konnte das nicht. Danach wurde es kompliziert: Mal waren wir zusammen, mal auseinander. Am Ende stand die Trennung.
»Es soll noch einen Film geben«, sage ich. »Könntest du dir vorstellen, darin aufzutreten?«
»Hm. Kommt ein bisschen plötzlich. Da muss ich drüber nachdenken. Wäre es dir denn wichtig?«
Ja, es ist mir wichtig. Wenn schon eine ehemalige Freundin von mir im Film zu Wort kommen soll, dann Nicole. Das sage ich ihr.
»Wieso?«, will sie wissen. »Wieso ich?«
»Weil du dabei warst. Als ich nach Hause kam.«
Nicole lacht. »Oh ja. Das werde ich nie vergessen. Was für ein Chaos. Dieser Tumult! Die ganzen Pressefritzen, die rumrannten! Ich wollte zu dir, aber meine Eltern sagten, jetzt warte mal, bis sich die Sache beruhigt hat. Alle Leute standen vor eurem Haus, und dich hat man auf den Balkon gestellt. Wie ein Ausstellungsstück. Auf einmal trafen sich unsere Blicke, und ich habe gesehen, was du durchmachen musstest.«
Plötzlich habe ich einen Kloß im Hals. Ich erinnere mich an den Balkon, weil ich nicht raus wollte. Ich wollte mich nicht zeigen. Ich wollte in der Wohnung bleiben.
»Also«, druckse ich herum, »bist du dabei?«
»Ja«, antwortet Nicole, »bin ich.«
Und so geschieht es auch. Ein paar Tage später wandeln wir Arm in Arm vor der Kamera herum, und für einen Moment kommt es uns vor, als hätten wir uns nie getrennt. Dann wird Nicole im Film erzählen, wie es war, als Sascha Buzmann in ihre Klasse kam. Wie ich auf dem Balkon stand und sie zu mir wollte. Wie aus unserer Freundschaft Liebe wurde. Doch sie wird etwas hinzufügen, was sie mir am Telefon verschwiegen hat. Vielleicht fiel es ihr auch erst ein, als die Kamera lief. Ich kenne das. Sobald die Kamera läuft, kehrt manche Erinnerung zurück.
»Ich bin unwahrscheinlich stolz auf ihn, dass er weiterleben kann«, sagt Nicole im Film. »Ich bin aber auch manchmal wütend, dass er aus seinem Leben so wenig gemacht hat. Er hatte so viele Möglichkeiten. Er hat viele Pläne, nach wie vor. Ich hoffe, dass er die umsetzt.«
Als der Film ein halbes Jahr später ausgestrahlt wird, bin ich erschüttert, weil es Nicole spielend leicht gelingt, in wenigen Worten mein ganzes Dilemma zusammenzufassen: Ja, ich habe tatsächlich viele Möglichkeiten. Ja, ich habe ständig neue Pläne. Und ja, bisher habe ich
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