Schockgefroren
könnte ich abhauen. Während ich das denke, klopft es ans Fenster. Adam G. sieht mich erschrocken an. Sein Gesichtsausdruck ändert sich. Die Augen werden eng und stumpf. Er presst eine Hand auf meinen Mund.
»Pst! Keinen Mucks.«
Wieder klopft es ans Fenster. Ein Mann ruft. Ich höre Schritte, und der Mann schlägt von außen gegen die Tür.
»Jemand da?« Und nach einer Weile: »Sag mal, du pennst doch?«
Adam G. weiß nicht, wie er sich verhalten soll. Er springt auf, geht zur Tür, dreht sich zu mir um, legt den Finger auf den Mund. Im nächsten Augenblick ist er draußen.
In meinem Kopf purzeln die Gedanken übereinander. Was soll ich tun? Da draußen ist einer, und wenn ich mich bemerkbar mache … wenn ich schreie … aber was passiert, wenn es ein Freund von Adam G. ist? Der dieselben Dinge machen will wie er? Nein, Adam G. hat keinen Freund, das hat er selbst gesagt. Doch ein Fremder ist es nicht. Sonst hätte sich Adam G. gewiss nicht mit einem »Pst« begnügt. Dann wäre das Entweder-oder dran gewesen. Du hältst die Klappe, oder ich mach dich tot.
Ich zittere. Vielleicht sollte ich dem Mann da draußen eine Nachricht zukommen lassen? Das Blatt mit dem Dinosaurier! Ich schreibe meinen Namen darauf und dass ich hier gefangen gehalten werde und meine Eltern mich suchen! Aber die suchen mich ja gar nicht, haben mich schon längst vergessen, nicht mal in den Zeitungen steht was. Ich stehe auf und schleiche zur Tür. Jetzt kann ich die Männer sprechen hören. Aber sie reden so leise, dass ich nichts verstehen kann. Nur einmal wird der Fremde laut, da geht es um »Stütze holen«. Ich weiß nicht, was er damit meint. Auf einmal bewegt sich die Klinke. Mit einem Satz bin ich zurück am Tisch, nehme den Stift und zeichne rasch einen Dinosaurier. Adam G. macht die Tür so schnell hinter sich zu, dass der Mann draußen keinen Blick hineinwerfen kann. Mir ist schlecht vor Angst und Enttäuschung. Als Adam G. sich neben mich setzt, kann ich die Tränen nur mit Mühe zurückhalten.
»Wer war das?«, frage ich und versuche, meiner Stimme nichts anmerken zu lassen.
Adam G. lacht, doch es ist ein böses Lachen. »Geht dich einen Dreck an«, sagt er. Und nach einer Weile: »Das war niemand.«
Die ganze Zeit über starre ich auf den Tyrannosaurus Rex. Er hat ein so großes Maul. Er könnte den ganzen Wohnwagen verschlucken, mitsamt Adam G.
»Willst du noch mehr Dinos malen?«, fragt der Mann, den ich in den Bauch eines Dinos wünsche.
Nein. Ich will nicht mehr malen. Allerdings ist Malen besser, als im Bett zu sein.
Während ich mich sagen höre »Ja, ich will noch malen«, denke ich auf einmal: Es stimmt nicht! Meine Eltern haben mich nicht vergessen! Meine Eltern suchen mich überall. Adam G. hat gelogen. Und in diesem Augenblick sage ich: »Wann darf ich nach Hause?«
Adam G. nimmt einen der Buntstifte. Er lässt ihn um die Finger kreisen. Einmal, zweimal, dreimal. Plötzlich knackst es, und der Buntstift zerbricht.
»Nie«, sagt er. »Du bleibst für immer bei mir.«
3. Befreiung
Wieder sitze ich einem Menschen gegenüber, der über die Umstände meiner Entführung mehr weiß als ich. Auch dieser Regisseur hat sich durch Archive gewühlt und alte Fernsehaufnahmen gefunden. Er hat Zeugen befragt und mit den Leuten geredet, die mich gesucht haben. Es ist ein seltsames Gefühl, wenn andere Menschen besser über das eigene Leben Bescheid wissen als man selbst.
Der Regisseur meinte, sicher gibt es viel mehr zu sagen, als im letzten Film erzählt wurde. Seit ich meine Aufzeichnungen mache, weiß ich, wie recht er hat. Die Frage ist bloß, ob für meine Erinnerungen Platz in einem Film ist. Deshalb hat mir Michaela gut zugeredet. Sie ist der Meinung, dass es auch Bücher darüber geben sollte, was man uns angetan hat. Seit sie auf ein eigenes Kind aufpasst, kommt es immer wieder vor, dass ihre Ängste die Oberhand gewinnen. Deshalb ist es am besten, sagt Michaela, wenn die Unsicherheit weggeschafft wird. Wenn wir wissen anstatt vermuten . Deshalb braucht es Filme und Bücher.
Seither denke ich darüber nach, ob aus meinen Erinnerungen eines Tages ein Buch entstehen kann. Dort wäre Platz genug für alles, was ich zu den Ereignissen und ihren Auswirkungen zu sagen habe. Doch jetzt muss ich mich erst einmal auf den Film konzentrieren. Wir sind im Büro des Regisseurs. Die Räumlichkeiten der Filmproduktion befinden sich auf einem der vielen grünen Hügel Wiesbadens. »Unter den Eichen« heißt diese schöne
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